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740 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
holen könne ; tatsĂ€chlich leidet sie aber an âVerzweiflungâ, wie sie dem Bruder
gleich zu Beginn ihrer ersten Begegnung offenherzig mitteilt (vgl. MoE 675 f.).
Im Vergleich zum ebenfalls intrikaten Vater-Sohn-VerhÀltnis1200 besteht al-
ler Grund zur Annahme, dass Agathe an einer besonderen Problematik der
âTöchterlichkeitâ leidet. Zum Altersunterschied zwischen den Generationen,
der mit 42 Jahren noch extremer ausfĂ€llt als der 37âjĂ€hrige Abstand zwischen
Ulrich und dem Vater, tritt hier zusÀtzlich die Geschlechtsdifferenz, die in der
Gesellschaft des frĂŒhen 20. Jahrhunderts eine fast unĂŒberwindbare HĂŒrde fĂŒr
eine ĂŒber Generationengrenzen hinweggehende, affektiv enge Beziehung
darstellt. Mit dem âkleinen, [âŠ] qualvoll rechtlichen Verstandesmannâ (MoE
726) verbindet die Tochter wenig, zumal der angesehene Jurist als Vertreter
und Garant der von ihr als bedrĂŒckend erlebten herrschenden MachtverhĂ€lt-
nisse fungiert. Der frĂŒhe Tod der Mutter verschĂ€rft diese Situation, weil der
Vater danach âdie beiden sehr aneinander hĂ€ngenden Geschwisterâ trennt,
âindem er sie in verschiedene Internate schicktâ.1201 Mit dieser MaĂnahme,
die im spĂ€ten 19. Jahrhundert fĂŒr einen alleinstehenden Vater nach dem Ver-
lust der Mutter angesichts der damals fehlenden Möglichkeit einer Koedu-
kation naheliegt, befördert er das Ende des intimen Kontakts zwischen den
Geschwistern und kompensiert es zugleich oberflÀchlich durch brieflich ver-
mittelte âordnungsgemĂ€Ăe Familiennachrichtenâ (MoE 672). Zingel fasst die
ziemlich defiziente familiÀre Integrationsleitung durch den Vater in folgende
Formel : âStatt Familie zu leben, verwaltet er sie lediglich. Am KnĂŒpfen und
Pflegen inniger Familienbeziehungen ist er nicht interessiert. So nimmt es
nicht Wunder, daĂ Agathe den Eindruck hat, ihr Vater habe sie nie geliebt.â1202
Ein spĂ€tes Indiz fĂŒr die Kompliziertheit der familiĂ€ren Konstellation stellt
etwa Agathes geradezu kriminelle Energie hinsichtlich des paternellen Erbes
dar. So betreibt sie ohne Beteiligung des Bruders die Profanierung des vÀterli-
chen Leichnams durch ein âseidenes, breites Strumpfbandâ, das sie sich vom
Bein streift und dem toten Vater âin die Tascheâ schiebt (MoE 707). Es han-
delt sich hierbei um eine in mehrerer Hinsicht profanierende Tat, denn der
verstorbene Mann wird durch die eindeutig erotische Anspielung der Toch-
ter in die traditionelle Rolle der passiven Frau gedrĂ€ngt, wodurch die ĂŒber-
kommene Ordnung der Geschlechterrollen in einer rituellen, quasisexuellen
Handlung auf den Kopf gestellt erscheint : Zum einen gibt die Tochter dem
Vater nach dessen Tod etwas mit und nicht umgekehrt. Zum anderen erfolgt
1200 Vgl. den Abschnitt zu Ulrich in Kap. II.2.1 sowie Heyd : Musil-LektĂŒre, S. 216â224.
1201 Zingel : Ulrich und Agathe, S. 66.
1202 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208