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741âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
die symbolische Ablehnung des vÀterlichen Erbes in einem nahezu obszönen
Akt, welcher der mÀnnlich konnotierten SeriositÀt des sozial gut situierten
und integrierten Vaters die Anerkennung verweigert, indem er ihn symbolisch
zur âempfangendenâ Frau macht. Die von Agathe auĂerdem in die Wege gelei-
tete Missachtung des âletzten Willen[s] ihres Vatersâ durch den Ordenstausch
(MoE 694 f. u. 705 f.) sowie vor allem durch die TestamentsfÀlschung (MoE
792â802) ist im Licht der bereits mehrfach angerissenen Erbethematik eben-
falls signifikant, zumal es sich hier um die einzige Frauenfigur des Musilâschen
Romans handelt, die sich damit ĂŒberhaupt aktiv auseinandersetzt (gewisse
AnsĂ€tze zu einer indirekten und weniger konsequenten ZurĂŒckweisung des
vÀterlichen Erbes lassen sich sonst allenfalls bei Clarisse und Gerda beobach-
ten). Auch Agathe zÀhlt zur zweiten Generation nach dem gesellschaftlichen
Aufstieg, und auch fĂŒr sie gilt ebenso wie fĂŒr Ulrich : Das ĂŒberkommene vĂ€-
terliche Erbe wird nicht angenommen oder aber in einer radikalen Verwei-
gerungshaltung so verfÀlscht, dass es nicht mehr wiederzuerkennen ist. Um
nachvollziehen zu können, wie es dazu kommt, bedarf es einer Rekapitulation
der habituellen Entwicklung Agathes bzw. ihrer âgenerativen Formelâ.
Als junges Kind, âbald nachdem sie angefangen hatte, in die Schule zu
gehnâ, ist Agathe durch âeine wunderliche Krankheitâ lange Zeit ans Bett
gefesselt gewesen : âLĂ€nger als ein Jahr hatte sie damals an einem nicht un-
betrÀchtlichen Fieber gelitten, das weder stieg, noch wich, und war zu einer
Zartheit abgemagert, welche die Besorgnis der Ărzte erregte, die davon keine
Ursache finden konnten. Diese Erkrankung war auch spÀter niemals aufge-
klĂ€rt worden.â (MoE 725) Böhme hat daraus ohne RĂŒcksicht auf die Fiktiona-
litĂ€t der literarischen Konstruktion auf âeine psychosomatische Erkrankungâ
geschlossen, genauer : auf einen âpsychisch verursachte[n] Abwehrmechanis-
mus [âŠ] gegen den Vaterâ.1203 Wichtiger wohl als diese ârealistischeâ Ătiolo-
gie, fĂŒr die es im Text zwar durchaus Indizien, aber wohl mit gutem Grund
keinen direkten Anhaltspunkt gibt, ist die Diagnose der Ambivalenz1204 von
Agathes Einstellung zu ihrer Krankheit :
Nun hatte es wohl Agathe gefallen, wie die groĂen Ărzte der UniversitĂ€t, die wĂŒrde-
voll und voll Weisheit zum ersten Mal ins Zimmer traten, von Woche zu Woche etwas
von ihrer Zuversicht verloren ; und obgleich sie folgsam jede Medizin einnahm, die ihr
verschrieben wurde, und sogar wirklich gern gesund geworden wÀre, weil man es von
ihr verlangte, freute sie sich doch darĂŒber, daĂ die Ărzte es mit ihren Verordnungen
1203 Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 194.
1204 Vgl. ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208