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742 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
nicht zuwege brachten, und fĂŒhlte sich in einem ĂŒberirdischen oder zumindest auĂer-
gewöhnlichen Zustand, wĂ€hrend von ihr immer weniger ĂŒbrig blieb. (MoE 725)
Bereits hier offenbart sich Agathes höchst eigenwillige innere WiderstÀndig-
keit gegen die bestehenden Ordnungen des Daseins sowie gegen dessen ver-
bĂŒrgte AutoritĂ€ten, was gemeinsam mit ihrer zugleich an den Tag gelegten
braven âFolgsamkeitâ ein merkwĂŒrdig ambivalentes Gesamtbild ergibt und als
einzigartig im Romankontext bezeichnet werden kann : âSie war stolz darauf,
daĂ die Ordnung der GroĂen keine Macht ĂŒber sie hatte, solange sie krank
war, und wuĂte nicht, wie ihr kleiner Körper das zustande brachte.â (MoE
725 f.) In seinen Notizen zur Reinschrift aus den frĂŒhen dreiĂiger Jahren hat
Musil die âKrankengeschichteâ Agathes in eine bezeichnende Opposition zu
den eindeutig pathologischen Tendenzen einer anderen weiblichen Roman-
figur gebracht, von denen sich die âgenerative Formelâ der Schwester Ulrichs
demnach deutlich abheben soll : âSie fĂŒhlte sich gesund dabei : das eingescho-
bene Clarisse-Kapitel zwingt, das Gesunde an Agathe stÀrker zu betonen. Sie
ist gar nicht nervös.â (M II/8/7) Diese GegenĂŒberstellung der beiden Frau-
enfiguren ist insofern von Bedeutung, als sie von der MĂŒhe des Autors zeugt,
die auf den ersten Blick vielleicht seltsam anmutenden Anwandlungen sei-
ner weiblichen Protagonistin nicht als pathologisches Syndrom erscheinen
zu lassen, sondern als durchaus ernst zu nehmende Haltung gegenĂŒber der
bestehenden Welt. âDa die Krankheit [Agathes, N. C. W.] mit dem Beginn
ihrer PubertÀt zusammenfÀllt, kann sie zudem als eine Verweigerung der Iden-
titĂ€tsbildung als Frau gedeutet werden.â1205 Sie steht demnach nicht allein
fĂŒr âweiblicheâ PassivitĂ€t, sondern birgt in sich zugleich die Möglichkeit des
Bruchs mit den ĂŒberkommenen Rollenmustern der gesellschaftlich sanktio-
nierten âEigenschaftlichkeitâ â womit sie gleichsam schon auf ihre Heilung hin
angelegt wÀre : Bourdieu zufolge besteht ein wichtiger Unterschied zwischen
mÀnnlicher und weiblicher Sozialisation gerade darin, dass Frauen sich tra-
ditionell â im Unterschied zu MĂ€nnern â nicht im öffentlichen Bereich be-
wĂ€hren mĂŒssen bzw. dĂŒrfen, sondern ihnen der private Raum vorbehalten
bleibt.1206 Agathe nun hÀlt sich durch ihre mysteriöse Erkrankung sogar noch
ausschlieĂlicher als gesellschaftlich vorgesehen im privaten Bereich auf ; sie
radikalisiert also mittels eines individuellen Leidens die geschlechtsspezifische
1205 Zingel : Ulrich und Agathe, S. 69, setzt hier die PubertĂ€t freilich recht frĂŒh an, da die Krank-
heit ja erklĂ€rtermaĂen âbald nachdem sie angefangen hatte, in die Schule zu gehnâ, ausbricht
(MoE 725).
1206 Vgl. Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 162 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208