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743âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Teilung zwischen öffentlich und privat, so dass ihre folgende Ăberwindung
der Krankheit implizit auch auf die Ăberwindung der typisch weiblichen So-
zialisationsmuster hindeutet. In der Genesung der kleinen Agathe wÀre dem-
nach schon die ZurĂŒckweisung der ĂŒberkommenen weiblichen Geschlech-
terrolle und ihre Substitution durch eine noch genauer zu bestimmende Form
von Androgynie1207 angelegt, was ein zentrales Element der spÀter an ihr dia-
gnostizierten âEigenschaftslosigkeitâ vorwegnimmt.
DarĂŒber hinaus âerzwingtâ Agathe durch ihre Krankheit âeine Zuwendung,
die sie sonst nicht erhĂ€ltâ, wodurch sie sich freilich â wie in mancher Hin-
sicht â auffallend von ihrem offensiveren Bruder unterscheidet. Böhme hat
ihre Strategie folgendermaĂen beschrieben :
Agathe revoltiert nicht, sie identifiziert sich auch nicht, wie zeitweise Ulrich, mit der
Vaterwelt, sondern sie zieht ihr Ich von der Welt ab. Sie entwickelt eine so ritualisierte
Folgsamkeit, daĂ ihr dadurch eine â geheime â Ausweichrolle zu spielen möglich
wird, in der sie sie selbst zu sein glaubt. Die Flucht in die Krankheit, an der die Macht
der Erwachsenen ihre Grenze findet, ist deswegen von positiven SelbstwertgefĂŒhlen
begleitet (Stolz, ĂŒberirdischer Zustand).1208
Nun lĂ€sst sich der âĂŒberirdische oder zumindest auĂergewöhnliche Zustandâ,
in den Agathe verfÀllt, wohl nicht hinreichend als Resultat einer problemati-
schen Kompensationsstrategie beschreiben, wie das Böhme in seiner LektĂŒre
versucht.1209 Dass es sich bei der eigenartigen Krankheitsgeschichte Agathes
im Gegenteil um die erzÀhlerische Suggestion einer rational nicht erklÀrbaren
Begebenheit handelt, die bereits auf die mythischen Implikationen der Ge-
schwisterhandlung vorausweist1210, belegt auch ihr Ende : Sie wird âfreiwillig
1207 Vgl. den Abschnitt zu Ulrich und Agathe in Kap. II.3.1.
1208 Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 194.
1209 Vgl. ebd., S. 194 f.: âWie jeder Abwehrmechanismus ist auch dieser âintelligentâ eingerichtet :
er ermöglicht die Abwehr der Erwachsenen und zugleich weckt Agathe den Schein der Folg-
samkeit, indem sie tut, was verlangt wird â ohne daĂ sich etwas Ă€ndert. [âŠ] Der Preis fĂŒr die
so gewonnene SelbstĂ€ndigkeit ist groĂ : RĂŒckzug aus der RealitĂ€t, SchwĂ€chung des âöffentli-
chenâ Ich (Krankheit, GleichgĂŒltigkeit), Ausbildung einer einsamen Phantasiewelt.â
1210 Vgl. Zingel : Ulrich und Agathe, S. 69, wo die Krankheit Agathes âals Hinweis auf ihre Offen-
heit fĂŒr den Bereich der Mystikâ bezeichnet wird ; dazu die etwas forcierte weiterfĂŒhrende
Deutung ebd.: âEin Wutanfall des Vaters, der aus Sorge um seine Tochter hervorgerufen wird,
geht ihrer Genesung voraus. Dieser emotionale Ausbruch bietet Agathe die Möglichkeit, einen
AnknĂŒpfungspunkt zu ihrem Vater zu finden [?], da die ihn sonst auszeichnende Beherrschtheit
in den Hintergrund tritt und er sich zu einer heftigen GefĂŒhlsregung hinreiĂen lĂ€Ăt. Dadurch
wird Agathes seelische Isolation aufgebrochen [?], was zu ihrer Genesung fĂŒhrt.â In eine Ă€hnli-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208