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744 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
und auf eine scheinbar ebenso ungewöhnliche Weiseâ genesen, indem die âEr-
krankung so unerwartet abschloĂ, wie sie begonnen hatteâ (MoE 726). Die im
unmittelbaren Anschluss daran berichtete, an Kleists Bettelweib von Locarno
gemahnende Episode von der hexenden Bettlerin trÀgt das Ihre dazu bei, den
Modus des Nicht-Ratioïden zu bestÀtigen1211, der diesen Kindheitserlebnissen
Agathes anhaftet und der im Fortgang der Romanhandlung noch eine gewich-
tige Rolle spielen wird.
Auch der weiteren Habitusausbildung des MĂ€dchens liegt die skizzierte
âAmbivalenz von (Ă€uĂerer) Folgsamkeit und (innerem) RĂŒckzugâ als âge-
nerative Formelâ zugrunde, âdie zu einer Trennung von Phantasiewelt und
Wirklichkeit zwingtâ1212 bzw. zu einer Unterscheidung zweier unterschied-
licher âWirklichkeitenâ oder âZustĂ€ndeâ, wobei Agathes Sympathieverteilung
eindeutig zugunsten der âzweiten Wirklichkeitâ bzw. des âanderen Zustandsâ
ausschlĂ€gt. In Musils apokryphen Notizen der frĂŒhen zwanziger Jahre, die als
Vorarbeiten zum spĂ€teren Kapitel 9 (âAgathe, wenn sie nicht mit Ulrich spre-
chen kannâ) des Zweiten Buchs anzusehen sind, wird ihre besondere Disposi-
tion zur âmythischen Denkformâ ausdrĂŒcklich benannt :
Agathe hat in der Schule schwer und dumpf gelernt. Nun hört sie den Satz : Wunsch
⊠[Der Wunsch ist der Vater des Gedankens, N. C. W.] in isolierender Betonung und
che, aber nicht identische Richtung deutet eine kompositorische Notiz aus dem Erlöser-Projekt
der Jahre 1921/22, in der Musil unter dem Stichwort âAgatheâ einen Gedanken aus dem Spion-
Projekt (vgl. Tb 1, 389 ; H 8/75) weiterentwickelt : âSchon als Kind â wie Pascal â in eine nie
ganz aufgeklĂ€rte Krankheit verfallen. Man erzĂ€hlte spĂ€ter, sie sei von einer PfrĂŒndnerin verhext
und dann wieder enthext worden, die sich fĂŒr einen Tadel rĂ€chen wollte, der ihr auf Grund
einer Verleumdung erteilt worden war. Der Vater gab ihr schliesslich eine Ohrfeige und das
bewirkte die moralische Umkehr. Man konnte nie Genaueres darĂŒber erfahren. Tatsache war,
dass die Krankheit nicht aufgeklÀrt war und auch dass der Vater einmal eine solche Ohrfeige
ausgeteilt hatte. Beunruhigendes GefĂŒhl von der Macht ĂŒber das Leben selbst dieses Vaters.
Aber wieviel daran Legende war, liess sich nie mehr absondern. Solange sie Kinder waren
sprachen die Dienstboten davon, liessen sich aber nicht auf genauere ErklÀrungen ein und
spĂ€ter waren die Dienstboten fort und durch andre ersetzt.â (M VII/8/151)
1211 Zwar werden die âAndeutungenâ der âHausleuteâ, wonach die kleine Agathe von der Bettle-
rin verhext worden sei, dadurch entkrĂ€ftet, dass das fragliche Ereignis ânicht vor, sondern erst
wĂ€hrend ihrer Krankheit geschehnâ ist ; dennoch trĂ€gt ihr âGedĂ€chtnisbild, worin sie ihren
Vater vor sich sah, wie er in flammendem Zorn auf ein verdÀchtig aussehendes Weib losschlug
und mehrmals mit der flachen Hand dessen Wange rĂŒhrteâ, alle ZĂŒge einer rational nicht
kommensurablen Erfahrung : â[S]ie hatte den kleinen, sonst qualvoll rechtlichen Verstandes-
mann nur dieses eine Mal in ihrem Leben derart verĂ€ndert und von Sinnen wahrgenommenâ
(MoE 726).
1212 Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 195.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208