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745âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
plötzlich wird sie sehend, versteht sich usw. Liest Maeterlinck. Er bedeutet mehr als
Bote einer Tradition als durch seinen Eigenwert. [âŠ] Sie liest ihn nicht wie wir alle
ihn gelesen haben, dichterisch, sondern als Boten aus ihrer Heimat. (M VII/8/151 ;
vgl. Tb 1, 390)
Agathe schÀtzt Maeterlinck demnach nicht wegen seines Àsthetischen Poten-
zials, das im Ersten Buch des Mann ohne Eigenschaften durch die zweifelhaften
Vorlieben Diotimas (und Arnheims) lÀngst entwertet worden ist (vgl. MoE
103 f. u. 122), sondern wegen des in seinen mystizistischen Schriften schlag-
lichtartig aufscheinenden ânichtratioĂŻdenâ Bereichs menschlicher Existenz. Um
die hier anklingende konzeptionelle Verbindung zwischen dem platt erschei-
nenden Sprichwort vom Wunsch als dem âVater des Gedankensâ und der ei-
gentĂŒmlich âmythischen Denkweiseâ Agathes transparent zu machen, ist es
hilfreich, sich die â[t]iefe Weisheitâ zu vergegenwĂ€rtigen, die der GefĂŒhlstheo-
retiker Musil in der ĂŒberkommenen Redensart verborgen sieht :
Bringe jemand Lust zu einem Gegenstand bei und Du bringst ihm seine Kenntnis bei.
GefĂŒhlshĂŒlle um Begriffe. Plötzliche Weitsicht ⊠: das sind, ĂŒber Jahrtausende ver-
teilt, BruchstĂŒcke einer Erkenntnis, die nie Theorie wurde. / Man sollte sie sammeln.
Möglicherweise : Verstand ist nicht das einzige Orientierungs- und VerstÀndigungs-
mittel, es gibt Àltere. Sympathie gehört in diese Verwandtschaft. Manchmal schlÀgt
die Àltere Form durch. Das sind mystische Augenblicke. (M VII/8/151 ; vgl. Tb 1,
389 f.)
Vor dieser diskursiven Folie wird es deutlicher, was Musil meint, wenn er zu
Agathe notiert : âSie hat auch gar nicht sofort alle Kombinationsmöglichkei-
ten, sondern steht dem Erlebnis eher hilflos gegenĂŒber. Sie ist gar nicht ver-
zĂŒckt, sondern â im Sinne der obigen Vermutung â der Mensch, in dem die
Ă€ltere Stufe weniger unterdrĂŒckt ist.â (M VII/8/151 ; vgl. Tb 1, 390) Hinter-
grund der Rede von der âĂ€lteren Stufeâ des Denkens ist wiederum das (be-
reits mehrfach zitierte1213) Theorem Kretschmers von dessen ursprĂŒnglicher
âKatathymieâ, worunter âdie Umbildung der seelischen Inhalte unter der Wir-
kung des Affektsâ zu verstehen sei : âDas primitive Weltbild ist in viel stĂ€r-
kerem Grade katathym als das unsrige. VerknĂŒpft das kausale wissenschaftli-
che Denken die Dinge nach dem Prinzip der HĂ€ufigkeit, so verknĂŒpft sie das
katathyme, magische Denken nach dem Prinzip der Affektgemeinschaft.â1214
1213 Vgl. dazu oben die AusfĂŒhrungen zu Clarisse.
1214 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 34.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208