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746 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Diese entwicklungspsychologische Lehre einer affektiven Verbindung des ka-
tathymen Denkens mit den zu erkennenden Dingen stimmt ĂŒberdies mit den
Thesen des ebenfalls bereits wiederholt erwÀhnten und von Musil offenbar
parallel zu Kretschmer rezipierten (vgl. GW 8, 1141) Kulturanthropologen Lu-
cien LĂ©vy-Bruhl ĂŒberein, der nach âeinem allgemeinen Gesetz [âŠ], einem ge-
meinsamen Fundamentâ jener âmystischen ZusammenhĂ€ngeâ suchte, âwelche
fĂŒr den Geist der Primitiven so oft zwischen den Wesen und den GegenstĂ€n-
den gegeben sindâ ; er meinte es in der âPartizipation (Anteilnahme) zwischen
den Wesen und den GegenstĂ€ndenâ gefunden zu haben.1215 Dementspre-
chend apostrophierte er âdie geistige Beschaffenheit der Primitiven mit dem
selben Recht als prĂ€logisch [âŠ], mit dem sie als mystisch bezeichnet wirdâ1216,
und nannte âdas der primitiven âGeistesbeschaffenheitâ (mentalitĂ©) eigentĂŒm-
liche Prinzip, das die Verbindungen und Vorverbindungen (préliaisons) dieser
Vorstellungen beherrschtâ, das ââGesetz der Partizipationâ (Anteilnahme)â.1217
Die von Musil mit groĂem Interesse, ja einer nicht ĂŒbersehbaren Faszination
aufgenommene entwicklungspsychologische bzw. ethnologische Konzeption
unterschiedlicher Denkformen ist auch fĂŒr die erzĂ€hlerische Gestaltung seiner
zentralen weiblichen Protagonistin von Bedeutung1218, was sich etwa darin Àu-
Ăert, dass Agathes Denken einer inneren Anteilnahme mit seinen GegenstĂ€n-
den bedarf und deren Ausbleiben durch GleichgĂŒltigkeit quittiert. âEs braucht
nicht einmal angenommen zu werden, daĂ Agathe solche Augenblicke unge-
wöhnlich oft und stark erlebte, sie nahm sie bloà lebhafter, oder, wenn man
will, auch aberglĂ€ubischer wahrâ (MoE 857).
Wenngleich die expliziten Hinweise auf die âmythische Denkformâ im ka-
nonischen Romantext etwas zurĂŒckgenommen erscheinen, inszeniert der
ErzĂ€hler hier Agathes âĂberlebensstrategieâ nach wie vor nach dem einmal
etablierten ambigen Muster einer nur oberflÀchlichen Ausrichtung an den Er-
fordernissen der âersten Wirklichkeitâ, die mit der grundsĂ€tzlichen PrĂ€ferenz
1215 Lévy-Bruhl : Das Denken der Naturvölker, S. 57.
1216 Ebd., S. 59. âEs sind dies eher zwei Ansichten derselben fundamentalen EigentĂŒmlichkeit, als
zwei verschiedene CharaktereigentĂŒmlichkeitenâ.
1217 Ebd., S. 57.
1218 So schon Zingel : Ulrich und Agathe, S. 70 f., die bei ihren Beispielen âfĂŒr die Ăhnlichkeit
zwischen Agathes und dem âwildenâ Denkenâ allerdings ahistorisch auf eine Diktion zurĂŒck-
greift, die nicht bei LĂ©vy-Bruhl, sondern erst bei LĂ©vi-Strauss zu finden ist, der dafĂŒr â in
programmatischer Abgrenzung von der Bezeichnung âprĂ€logischâ â das Epitheton âwildâ ver-
wendet und auĂerdem die von LĂ©vy-Bruhl vertretene, relativ strikte Scheidung zwischen âprĂ€-
logischemâ und wissenschaftlichem Denken bzw. âdie falsche Antinomie zwischen logischer
MentalitĂ€t und prĂ€logischer MentalitĂ€tâ verwirft ; vgl. LĂ©vi-Strauss : Das wilde Denken, S. 25 u.
308.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208