Seite - 749 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 749 -
Text der Seite - 749 -
749âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Sie erinnerte sich, wieviel lebhafter als sie selbst ihre Freundinnen oft gegen die starre
Internatszucht gemeutert und mit welchen GrundsÀtzen der Empörung sie ihre
VorstöĂe gegen die Ordnung ausgestattet hatten ; soweit sie jedoch in die Lage ge-
kommen war, es zu beobachten, waren gerade jene, die sich gegen Einzelheiten am
leidenschaftlichsten aufgelehnt hatten, spÀter mit dem Ganzen des Lebens auf das
Beste ausgekommen, und es hatten sich aus diesen MĂ€dchen gut gebettete Frauen
entwickelt, die ihre Kinder nicht viel anders erzogen, als es ihnen selbst widerfahren
war. Sie war darum trotz ihrer Unzufriedenheit mit sich auch nicht ĂŒberzeugt, daĂ es
besser sei, ein tÀtiger und guter Charakter zu sein. (MoE 727)
Viel grundsÀtzlicher als jene ephemeren Gesten negativistischen Aufbegeh-
rens, die sich nach dem Muster harmonistischer Bildungsvorstellungen suk-
zessiv an der Gesellschaft âabschleifenâ und in idealtypischer Weise auf der
Basis fortschreitender Absorption und Formgebung zuletzt doch noch zu
einer âgeglĂŒcktenâ Integration in die ĂŒberkommenen MachtverhĂ€ltnisse fĂŒh-
ren, richtet sich Agathes ganz fundamentaler Vorbehalt gegen die bestehende
Wirklichkeit, die sie sich zu affirmieren konsequent weigert.1224 Mehr noch :
âAgathe scheint es unmöglich, eine Beziehung zur Welt zu entwickeln. Die
Welt, in die sie hineingeboren wird, ist fĂŒr sie immer die der anderen, auf die
sie keinen EinfluĂ hat : als Kind die Welt der Erwachsenen, als Frau die Welt
der MĂ€nner. [âŠ] Sie erfĂ€hrt ihre Umgebung als stark strukturiertes [âŠ] sozi-
ales GefĂŒge, in dem es fĂŒr sie keinen Platz zu geben scheint.â1225 Hinsichtlich
ihrer sozialen AlteritÀt und ExtraterritorialitÀt befindet sie sich in einer struk-
turellen Homologie zu ihrem Bruder Ulrich, dem idealtypischen Mann ohne
Eigenschaften, und die normativen Oppositionspaare âtrĂ€ge/tĂ€tigâ bzw. âwert-
los/gutâ lassen sich im Rahmen der von Ulrich in Aussicht gestellten âUmwer-
tung aller Werteâ (Nietzsche) ohne allzu groĂen Aufwand umpolen, wodurch
sie in sich den Keim einer neuen, einer âanderenâ Welt bergen. Agathe selbst
empfindet schon in jungen Jahren die VorlÀufigkeit ihrer Existenz :
1224 Nach der an Foucault geschulten Deutung von Balke : Auf der Suche nach dem âanderen
Zustandâ, S. 309, vollzieht Agathe eine âAbsatzbewegung von den Strategien der Macht und
den Formen des Wissens [âŠ]. Den pĂ€dagogischen Institutionen gegenĂŒber, denen sie in ihrer
Jugend ausgeliefert ist, praktiziert sie eine Art âhöheren Gehorsamâ, der darin besteht, den
AnsprĂŒchen der Macht und des Wissens nicht in offener Rebellion, sondern mit GleichgĂŒl-
tigkeit zu begegnen, mit der Weigerung, sich von ihnen individualisieren zu lassen : Macht und
Wissen bleiben gleichsam âdrauĂenââ ; im Unterschied zu herkömmlichen Dissident(inn)en
wisse âsich Agathe auf eine Weise dieser Ordnung zu entziehen, die ganz ohne Berufung auf
die AutoritÀt eines Gewissens auskommt und sich niemals an den Phantasmen einer Gegen-
macht berauscht.â
1225 Zingel : Ulrich und Agathe, S. 65.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208