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750 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Wenn sie sich fragte, wovon sie eigentlich ĂŒberzeugt wĂ€re, so antwortete ihr ein Ge-
fĂŒhl, daĂ sie ausersehen sei, etwas Ungewöhnliches und Andersgeartetes zu erleben ;
schon damals, als sie noch so gut wie nichts von der Welt wuĂte und das wenige,
das man sie gelehrt hatte, nicht glaubte. Und es war ihr immer als eine geheimnis-
volle, diesem Eindruck entsprechende AktivitÀt erschienen, einstweilen, wenn es sein
mĂŒĂte, alles mit sich geschehen zu lassen, ohne es gleich zu ĂŒberschĂ€tzen. (MoE
727 f.)
Die heranwachsende Agathe fĂŒhrt ihr Leben, an das sie Ă€hnlich groĂe An-
sprĂŒche stellt wie der junge Ulrich, bis zur erwarteten ErfĂŒllung ihrer WĂŒn-
sche also gleichsam unter dem Vorbehalt, dass der momentane Zustand â der
Status quo, die herrschende Wirklichkeit â nicht von Dauer ist und deshalb
nicht ernst genommen zu werden braucht.1226 Das entscheidende Ereignis,
dessen Eintreten sie mit Gewissheit erwartet, scheint noch vor ihr zu liegen.
Von entscheidender Bedeutung bei der erzÀhlerischen Gestaltung der Figur
Agathes ist das bereits erwÀhnte, an ihr auch physiognomisch manifeste PhÀ-
nomen der âEigenschaftslosigkeitâ1227, das hier der beobachtende Ulrich selbst
registriert :
Dieses Gesicht beunruhigte ihn durch irgend etwas. Nach einer Weile kam er darauf,
daĂ er einfach nicht erkennen konnte, was es ausdrĂŒcke. Es fehlte darin das, was die
gewöhnlichen SchlĂŒsse auf die Person erlaubt. Es war ein inhaltsvolles Gesicht, aber
nirgends war darin etwas unterstrichen und in der gelĂ€ufigen Weise zu CharakterzĂŒ-
gen zusammengefaĂt. (MoE 676 f.)
1226 Vgl. dazu folgende nachgelassene Notiz Musils aus dem Jahr 1939, in der er ĂŒber eine zeitge-
mĂ€Ăe GenialitĂ€t âohne den groĂen Ehrgeiz des Geniesâ reflektiert, die folglich nicht mehr ei-
nem idealistischen Subjektivismus anhÀngt und sich dennoch durch eine wirklichkeitskritische
Einstellung auszeichnet : âGenial usw. ist doch wirklich das, wodurch sich Menschen von der
Art Ulrichs und Agathes von der wirklichen Welt und ihrem Entwicklungsgang unterschei-
den. In Zeiten wie heute, die das Geniale miĂachten und zerstören, besonders kraĂ. Schreibe
aus diesem GefĂŒhl ! Solche Menschen möchten heute nun ernstlich wissen, woran sie sich zu
halten haben. Sie sind die verrufenen Individualisten usw.â (M V/1/38)
1227 Vgl. Zingel : Ulrich und Agathe, S. 63 : âSie ist neben Ulrich die zweite Figur, die von der
sonst vorherrschenden Typisierung ausgenommen wird.â Zingel beruft sich dabei (nicht ganz
zu Recht) auf Nusser : Musils Romantheorie, S. 53, sowie auf Precht : Die gleitende Logik
der Seele, S. 228 f., wo von der âĂ€uĂerst rigiden Typisierungâ der Figuren des Mann ohne
Eigenschaften die Rede ist, von der angeblich nur Ulrich und Agathe eine Ausnahme bilden.
Zur Sonderrolle Agathes vgl. auch die Andeutung in Martens : Beobachtungen der Moderne,
S. 158.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208