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751âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
In auffallender Analogie zum eigenen Habitus einer inaktiven, âteilnahmslosen
Leidenschaftâ bzw. eines âaktiven Passivismusâ (vgl. MoE 356 u. 368 f.) konsta-
tiert Ulrich Entsprechendes an der schwer zugÀnglichen Erscheinung seiner
Schwester : âSie ist eigentlich hart. Sie konnte schon als Kind in einer stillen
Weise ungemein eigensinnig sein.â Unmittelbar daran anschlieĂend stellt er
in gewissem Widerspruch zu dieser Beobachtung und in einer merkwĂŒrdigen
Kombination von Aussage- und Fragesatz fest : âTrotzdem sieht sie nachgiebig
aus ?â (MoE 678) Agathes eigenwillige Mischung aus HĂ€rte, Eigensinn und
Nachgiebigkeit, die dazu beitrÀgt, sie als eine Frau ohne Eigenschaften erschei-
nen zu lassen, wirkt unter individualpsychologischer Perspektive wie ein ha-
bitueller Reflex auf den frĂŒhen Verlust der Mutter sowie auf die Wiederho-
lung dieser traumatischen Erfahrung durch den unvorhergesehenen Tod des
ersten Ehemanns. Ein weiterer sozioanalytisch nicht zu vernachlÀssigender
Hintergrund fĂŒr Agathes Habitusausbildung wurde bereits erwĂ€hnt : Ăhnlich
wie Ulrich ist sie fernab vom wenig empathischen Vater, der sie âin zartem
Alter, gleich nach dem Tod ihrer Mutter, aus dem Haus tatâ (MoE 673), âin
einem Kloster erzogen wordenâ (MoE 722) â in einem jener MĂ€dcheninter-
nate also, wo in der Vorkriegszeit bekanntlich gröĂte Strenge und Disziplin
bei weitgehender Abwesenheit von affektiven Kompensationen herrschten,
aber âkeine Berufsausbildungâ1228 vermittelt wurde. SpĂ€ter hat Agathe dann â
auch hierin nicht untypisch fĂŒr eine bestimmte Weise des Umgangs mit dieser
Erfahrung â alle ReligiositĂ€t abgelegt ; sie spricht ĂŒber religiöse Erlebnisse und
den dazugehörigen geistigen Hintergrund nunmehr ânicht gerade respektvollâ
(MoE 722). Mehr noch : Sie selbst erklĂ€rt es zu einer âFolgeâ ihrer Erziehung
âin einem sehr frommen Institutâ, dass sich in ihr stets âeine Lust an der Ka-
rikatur meldetâ, die âeinfach schĂ€ndlich wird, sobald jemand von frommen
Idealen sprichtâ (MoE 755). In ihrer strikt antiidealistischen Gesinnung1229 of-
fenbart sich eine weitere habituelle NĂ€he zu ihrem Bruder, wie dieser selbst
gesprÀchsweise hervorhebt :
âWeiĂt du, was das beweist ?â rief Ulrich aus. âDoch nichts anderes, als daĂ die Kraft
zum Guten, die auf irgendeine Weise wohl in uns vorhanden ist, sogleich die WĂ€nde
durchfriĂt, wenn man sie in eine feste Form einschlieĂt, und durch das Loch sofort
1228 So Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 193.
1229 In einer Entwurfsfassung heiĂt es noch allgemeiner auf Ideale aller Art bezogen : âUnd so seit-
her ist mir eine Lust an Karrikaturen [sic] [âŠ] zurĂŒckgeblieben, die einfach schĂ€ndlich wird,
sobald jemand von Idealen spricht. Wirklich schĂ€ndlich und ganz ohne höheren Sinn !â (M
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208