Seite - 756 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 756 -
Text der Seite - 756 -
756 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
so konstruiert und konditioniert sind, daĂ sie sich wie Kinder von allen ihnen gesell-
schaftlich zugewiesenen Spielen packen lassen [âŠ]. Der Umstand, daĂ unter den fĂŒr
die soziale Existenz konstitutiven Spielen diejenigen, die ernst genommen werden,
MĂ€nnern vorbehalten bleiben [âŠ], lĂ€sst [sic] vergessen, daĂ der Mann auch ein Kind
ist, das den Mann spielt. [âŠ] Weil die MĂ€nner dazu erzogen werden, die gesellschaft-
lichen Spiele anzuerkennen, deren Einsatz irgendeine Form von Herrschaft ist, und
weil sie sehr frĂŒh schon, besonders durch die Einsetzungsriten, zu Herrschenden be-
stimmt und in dieser Eigenschaft mit der libido dominandi ausgestattet werden, haben
sie das zweischneidige Privileg, sich den Spielen um die Herrschaft hinzugeben.1239
Als Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft hat Agathe dagegen ihrer-
seits âdas gĂ€nzlich negative Privileg, von den Spielen, bei denen um die Privi-
legien gestritten wird, nicht getĂ€uscht zu werden und den GroĂteil der Zeit
zumindest nicht unmittelbar, in eigener Person, in sie involviert zu seinâ, ja
sie vermag gerade aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Exklusion aus die-
sen Spielen âderen Eitelkeit zu durchschauenâ.1240 Im letzten Satz des kanoni-
schen Romanteils wird ihre GleichgĂŒltigkeit gegenĂŒber den Machtspielen der
MĂ€nner am Beispiel einer groĂen Soiree der Parallelaktion vor Augen gefĂŒhrt,
aus der âsich Agathe plötzlich verabschiedetâ und, ohne Ulrich zu informie-
ren, Diotimas Salon allein verlĂ€sst ; ihrem ĂŒberraschten Bruder, der die ihm
gesellschaftlich zugewiesenen Spiele zumindest Ă€uĂerlich mitspielt, lĂ€sst sie
nur ausrichten, âdaĂ sie ihn durch ihren EntschluĂ nicht hĂ€tte stören wollenâ
(MoE 1041). Die grammatikalisch auffÀllige Konstruktion dieser vom ErzÀhler
in einem Konjunktiv II mitgeteilten letzten Worte lÀsst es genauso wie ihr
enigmatischer Sinn â wobei hĂ€tte Agathe Ulrich denn âstörenâ können ? â un-
gewiss erscheinen, ob die Nachricht der Schwester ernst oder ironisch ge-
meint ist1241 ; sie lenkt die Aufmerksamkeit der Leser und Leserinnen einmal
mehr auf die nackte Tatsache von Agathes innerer Desinvolviertheit, die es ihr
in besonderer Deutlichkeit erlaubt, âdie kollektive Kollusionâ zu durchbrechen,
1239 Bourdieu : Die mĂ€nnliche Herrschaft, S. 132 f.; vgl. auch ders.: Meditationen, S. 212â214.
1240 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 133 f.
1241 Auch in der Fortsetzung dieser Episode im Druckfahnenkapitel 41 (âDie Geschwister am
nĂ€chsten Morgenâ) wird der angesichts des âplötzlichen Verschwinden[s] Agathes aus der
Gesellschaft bei ihrer Kusineâ verĂ€rgerte Ulrich nicht erfahren, âwarum sie ihm auf und davon
gegangenâ ist ; am Abend selbst nĂ€mlich hatte sich Agathe âeingeschlossen und entweder
schon geschlafen oder mit Absicht die leise Frage des Lauschenden, ob sie noch wache, ohne
Antwort gelassen. [âŠ] Auch am nĂ€chsten Tag war keine Auskunft von ihr zu erlangen.â Die
abschlieĂenden Worte des ErzĂ€hlers zum eigenartigen Verhalten Agathes legen den Akzent
von neuem auf seine RĂ€tselhaftigkeit : âIhre wirklichen Empfindungen kannte sie selbst nicht.â
(MoE 1056)
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208