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758 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
verdrĂ€ngt keineswegs, dass ihr Körper ânicht identisch mit ihr selbst istâ1246
und deshalb auch keine dauerhafte Versicherung ihrer Ich-IdentitÀt leisten
kann.1247 Ganz nach dem Vorbild der Machâschen Wahrnehmungstheorie1248
sieht sie
ihre IdentitĂ€t nicht im Körper als solchem, sondern in den GefĂŒhlen, die ihr der Kör-
per erweckt. Diese GefĂŒhle aber mĂŒssen sich mit den VerĂ€nderungen des Körpers
und seiner Wirkungen auch grundlegend verÀndern, sodass von ihrem momentanen
âIchâ in wenigen Jahren nichts mehr ĂŒbrig bleiben wird als Erinnerung, die ja immer
schon Deutung ist und aller Gewissheit ermangelt.1249
Auch den ĂŒberkommenen identitĂ€tsstiftenden Glauben âan eine Seeleâ lehnt
Agathe ab, âweil ihr das ĂŒberheblich und auch fĂŒr ihre Person viel zu bestimmt
vorkam. Sie konnte bloĂ ebensowenig an das Irdische glaubenâ (MoE 857).
Mit der zuletzt zitierten Verneinung ist wohl nicht nur die abstrakte âIdee einer
Substanzâ des Ichs gemeint1250, sondern die Rechtfertigung der herrschenden
sozialen Wirklichkeit schlechthin. Agathes âAbkehr von der irdischen Ordnung
ohne Glauben an eine ĂŒberirdischeâ (MoE 857) erweist sich somit als âzweifa-
cher Bruchâ mit den gesellschaftlich etablierten Deutungsmustern der Welt.
Eine nachgelassene Entwurfsnotiz Musils aus dem Jahr 1934 bringt Agathes
âEigenschaftslosigkeitâ im Sinne der radikalen Verweigerung gegenĂŒber den
vorgegebenen sozialen Rollen mit einer terminologischen PrÀzision auf den
Punkt, die in den kanonischen Textpassagen so kaum zu finden ist :
Dann erinnerte sie sich an Gesichter aus dem 16. Jahrhundert, die sie in irgendeiner
Sammlung von Abbildungen einmal gesehn haben muĂte. Vortreffliche Gesichter
mit starken Stirnen und mit krĂ€ftigeren GesichtszĂŒgen, als man es heute sieht. Man
konnte verstehen, daà alle diese Menschen einmal eine Rolle gespielt hÀtten. Dazu
Umstands, dass sie â gleich wie ihr Bruder Ulrich â âihr Leben vorbeigehen lasse, als wĂ€hrte
es ewigâ (MoE 853), obwohl sie doch um dessen VergĂ€nglichkeit weiĂ.
1246 Sokel : Agathe und der existenzphilosophische Faktor, S. 112.
1247 Vgl. dazu Bourdieu : Die mĂ€nnliche Herrschaft, S. 112â121.
1248 Vgl. Mach : Die Analyse der Empfindungen, S. 19.
1249 Sokel : Agathe und der existenzphilosophische Faktor, S. 113.
1250 So Sokel ebd.: âEs ist nicht der Unterschied Körper und Seele, materielle und geistige Sub-
stanz, also die Art der Substanz, die bei Agathe ins Gewicht fÀllt, sondern die Idee der Sub-
stanz ĂŒberhaupt, sei sie nun als stofflicher Leib oder als unstoffliche Seele gedacht, erscheint
ihr fragwĂŒrdig und unakzeptabel. Und mit dem Glauben an die Substanz löst sich auch der
Glaube an das Ich auf.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208