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760 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
synkrasie zelebriert wird, sondern sich auch implizite Kritik des ErzÀhlers an
konkurrierenden Erscheinungsformen weiblicher SexualitÀt bei anderen ro-
manesken Frauenfiguren wie Bonadea oder Diotima Ă€uĂert. Die Frau ohne
Eigenschaften weigert sich eben in jeder Hinsicht, rollenmĂ€Ăig vorgegebenen
Bahnen zu folgen und damit eine ânaturgemĂ€Ăeâ Sinnhaftigkeit und Ordnung
des Bestehenden zu statuieren. Radikaler noch als ihr Bruder Ulrich, der das
BedĂŒrfnis nach Sinngebung und die Behauptung von Notwendigkeiten al-
lererst aus einem theoretischen KalkĂŒl heraus ablehnt, aber gerade aufgrund
der allgemeinen Anerkennung seiner im kulturellen Kapital fundierten mÀnn-
lichen Intellektuellenrolle dennoch groĂe Sicherheit im gesellschaftlichen
Umgang besitzt, entbehrt Agathe in der alltÀglichen Lebenspraxis bzw. im
eigenen Erleben des Alltags jeglichen affirmativen Sinnbezugs sowie jeglicher
Suggestion innerer Notwendigkeit, nach denen sie sich gleichwohl wie nach
einem Rettungsanker sehnt.1252 Ihr existenzielles Interesse am sinngewissen
âTugutâ Lindner, das ihren Bruder so verstört, hat nicht zuletzt darin seine
Wurzel. Auch die von intellektuellen Sublimierungen und Relativierungen
Ă la Ulrich gĂ€nzlich unberĂŒhrte, absolute bzw. âromantischeâ NegativitĂ€t der
Schwester gegenĂŒber den bestehenden Ordnungen des Daseins mag in der
geschlechtsspezifisch bedingten, vergleichsweise ungĂŒnstigen Voraussetzung
der Möglichkeit wissenschaftlicher Bildung begrĂŒndet sein.
Die Differenz verweist auf einen signifikanten Unterschied zwischen der
jeweiligen Form von âEigenschaftslosigkeitâ bei dem mĂ€nnlichen Protagonis-
ten und der weiblichen Protagonistin : Das spielerische Element ist bei Agathe
schwÀcher ausgeprÀgt als bei Ulrich. Es ist zudem weniger intellektuell als
vielmehr emotional konnotiert und birgt ĂŒberdies den dialektischen Umschlag
in eine Sehnsucht nach Verankerung in sich, die bei Ulrich weniger sichtbar
erscheint. Hier deutet sich der âweiblicheâ Zweifel am âmĂ€nnlichenâ Spielsinn
an, der zwar nicht bis zur Objektivierung der eigenen Stellung fortzuschreiten
vermag, immerhin aber die Möglichkeit einer solchen andeutet, indem durch
ihn das intellektuelle Spielen als eine mÀnnliche DomÀne objektiviert wird,
deren illusio unter anderem auf der Verleugnung der Tatsache beruht, dass
das zum Prinzip erhobene unaufhörliche In-Frage-Stellen selbst ein mÀnnli-
1252 Vgl. dazu folgenden Dialogausschnitt aus dem Kapitel II/10 : Agathe : âNun sag mir du, um
Gotteswillen, sag mir endlich, in welchen Augenblicken erscheint uns etwas im Leben not-
wendig ? !â Ulrich : âWenn man sich im Bett umdreht ! [âŠ] Man ist unzufrieden mit seiner
Lage ; man denkt unaufhörlich daran, sie zu Ă€ndern, und faĂt einen Vorsatz nach dem andern,
ohne ihn auszufĂŒhren ; endlich gibt man es auf : und mit einemmal hat man sich umgedreht !
Eigentlich mĂŒĂte man sagen, man ist umgedreht worden. Nach keinem anderen Muster han-
delt man sowohl in der Leidenschaft als auch in den lang geplanten EntschlĂŒssen.â (MoE 737)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208