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761âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
ches Privileg ist. In dieser Hinsicht kommt die Frau ohne Eigenschaften dem
Standpunkt Musils sogar nĂ€her als Ulrich â dem Standpunkt eines Autors, der
selbst erwÀhnt, er habe als Kind wiederholt den Wunsch gehegt, ein MÀd-
chen zu sein.1253 Es ist kompositorisch ĂŒberaus konsequent, wenn die Ob-
jektivierung des intellektuellen Spielsinns als eines Aspekts der mÀnnlichen
âEigenschaftslosigkeitâ in dem von einem Mann verfassten Roman gerade
durch die Frau ohne Eigenschaften nahegelegt wird, weil damit die âmĂ€nnli-
cheâ Rolle des aktiven Zweifelns und Spielens selbst in Zweifel gezogen wird,
was dem âweiblichenâ UngenĂŒgen am permanenten Zweifeln entspricht. Aga-
the beweist hier jene charakteristische weibliche âNĂŒchternheitâ, die Musil
in seinem Essay Die Frau gestern und morgen der âneuen Frauâ als Vermögen
zugeschrieben hat, âeine groĂe Reinigung der AtmosphĂ€reâ zu bewirken ; sie
bezieht sich mithin nicht mehr auf jene âSchwĂŒle Ă€lterer MĂ€nnerâ (GW 8,
1198), die am verstorbenen Vater oder an Hagauer exemplifiziert wird.
Als eine weitere Analogie zwischen den beiden Geschwisterfiguren ist zu
erwÀhnen, dass sich Ulrichs problematische Frauenbeziehungen in Agathes
eigenartigen Beziehungen zu MĂ€nnern spiegeln.1254 Schon eine frĂŒhe Notiz
Musils im Arbeitsheft 211255 hĂ€lt diesbezĂŒglich fest : âIhr moralisches Verlas-
sensein ist das SeitenstĂŒck zu Achillesâ intellektuellem.â (Tb 1, 576) Wie be-
reits angedeutet, wurde Agathes erste, sehr glĂŒckliche Ehe, die sie auf eigene
Veranlassung und zumindest vordergrĂŒndig den damaligen bĂŒrgerlichen Kon-
ventionen entsprechend schon recht jung â mit 18 Jahren â eingegangen ist,
âein Jahr spĂ€terâ durch den frĂŒhzeitigen Tod des âjungen Gattenâ abrupt been-
det (MoE 672)1256 â eine Erfahrung, die sie lange nicht verarbeiten kann :
Agathe hatte dieses Geschehnis, das ihre GefĂŒhle vernichtete, niemals anerkannt.
Verwirrt von Verzweiflung, hatte sie vor dem Bett des Sterbenden auf den Knien ge-
legen und sich eingeredet, daà sie die Kraft wieder heraufzubeschwören vermöchte,
1253 Vgl. die (oben erwÀhnten) autobiografischen Notizen des Arbeitshefts 33 (Tb 1, 952 f.; H
33/99).
1254 Vgl. dazu den allgemeinen Hinweis bei Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 53.
1255 Vgl. dazu Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 41.
1256 Die âzum Weltgebrauch platt geschliffene Seite des Geschehnissesâ fasst der ErzĂ€hler in fol-
gende Worte : âAgathe hatte mit achtzehn Jahren einen Mann geheiratet, der nur um wenig
Ă€lter war als sie selbst, und auf einer Reise, die mit ihrer Hochzeit begann und mit seinem
Tode endete, wurde er ihr, ehe sie auch nur ihren zukĂŒnftigen Wohnsitz gewĂ€hlt hatten, bin-
nen einigen Wochen durch eine Krankheit wieder entrissen, die ihn unterwegs angesteckt
hatte.â (MoE 756) Ulrich erinnert sich, dass es spĂ€ter hieĂ, Agathe habe âihren ersten Mann
sehr geliebtâ ; er nimmt diese ihm konventionell erscheinende Formel aber zunĂ€chst nicht
sonderlich ernst (MoE 673).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208