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762 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
mit der sie als Kind ihre eigene Krankheit ĂŒberwunden habe ; als der Verfall trotzdem
fortschritt und schon das BewuĂtsein geschwunden war, hatte sie, in den Zimmern
eines fremden Hotels, unfÀhig zu verstehen, in das verlassene Gesicht gestarrt, hatte
den Sterbenden ohne Achtung der Gefahr mit den Armen umfaĂt gehalten und ohne
Achtung der Wirklichkeit, fĂŒr die eine empörte Pflegerin sorgte, nichts getan als ihm
stundenlang ins ertaubende Ohr gemurmelt : âdu darfst nicht, du darfst nicht, du darfst
nicht !â Als alles vorbei war, war sie aber erstaunt aufgestanden, und ohne etwas Be-
sonderes zu glauben und zu denken, bloà aus der TraumfÀhigkeit und Eigenwilligkeit
einer einsamen Natur behandelte sie von dem Augenblick dieses leeren Staunens
an das Geschehene innerlich so, wie wenn es nicht endgĂŒltig wĂ€re. Einen Ansatz
zu Ăhnlichem zeigt ja wohl jeder Mensch schon, wenn er eine UnglĂŒcksbotschaft
nicht glauben will oder Unwiderrufliches tröstlich fÀrbt ; das Besondere im Verhalten
Agathens war aber die StĂ€rke und Ausdehnung dieser RĂŒckwirkung, ja eigentlich ihre
plötzlich ausbrechende MiĂachtung der Welt. (MoE 756 f.)
In diesem Bericht fÀllt zunÀchst die Kompromisslosigkeit auf, mit der die junge
Ehefrau ohne jede RĂŒcksicht auf die eigene GefĂ€hrdung darum kĂ€mpft, den
Tod ihres Gatten abzuwenden â was in gewisser Hinsicht an das âmystischeâ
Ende von Flauberts ErzĂ€hlung Saint-Julien lâHospitalier aus den Trois Contes
(1877) erinnert â, sodann, nach dem Scheitern ihres Ansinnens, ihr fortschrei-
tender Wirklichkeitsverlust, der sich in einer radikalen âMiĂachtung der Weltâ
Ă€uĂert und in einen âZustand der Indifferenzâ mĂŒndet, âden sie geflissentlich
zur Schau trug und in sich begĂŒnstigteâ (MoE 756) â mit bemerkenswerten
Konsequenzen :
Neues nahm sie seitdem geflissentlich nur noch so auf, als ob es weniger das Ge-
genwĂ€rtige als etwas höchst Ungewisses wĂ€re, ein Verhalten, das ihr durch das MiĂ-
trauen, das sie der Wirklichkeit seit je entgegengebracht hatte, sehr erleichtert wurde ;
das Gewesene dagegen war unter dem erlittenen StoĂ erstarrt und wurde viel lang-
samer von der Zeit abgetragen, als es sonst mit Erinnerungen geschieht. (MoE 757)
Die bereits von der heranwachsenden Agathe gefĂŒhrte Art eines âLebens unter
Vorbehaltâ wird reaktiviert und zu einem veritablen Existenzprinzip erhoben.
In Wahrheit lief freilich alles das nur darauf hinaus, daĂ sie wieder den Sinn ihres
Daseins verloren hatte und sich mit Willen in einen Zustand versetzte, der nicht zu
ihren Jahren paĂte ; denn nur alte Menschen leben so, daĂ sie bei den Erfahrungen
und Erfolgen einer vergangenen Zeit verharren und vom GegenwÀrtigen nicht mehr
berĂŒhrt werden. (MoE 757)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208