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763âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Bei Agathe handelt es sich aber nicht um eine vorweggenommene Alterser-
scheinung, sondern um eine Form der âEigenschaftslosigkeitâ, die sie nach er-
neuter âleidenschaftlicher ErnĂŒchterungâ dazu bringt, sich selber bewusst zum
âLeben mit einem Mannâ zu âverurteilenâ, âder ihr einen leichten Widerwillenâ
einflöĂt (MoE 758).
Mit 22 Jahren, drei Jahre nach dem Tod ihres ersten Ehemanns, vermÀhlt
sich Agathe auf ausdrĂŒcklichen Wunsch des Vaters erneut, und zwar mit dem
âtĂŒchtigen und bravenâ (MoE 79) ReformpĂ€dagogen Gottlieb Hagauer. Diese
zweite, nicht auf eigene Initiative geschlossene und lÀnger anhaltende Ehe
bleibt bezeichnenderweise nicht nur glĂŒck-, sondern auch kinderlos (vgl. MoE
672 f.). Agathe betrĂŒgt ihren Gatten sogar âhie und da mit anderenâ, obgleich
sie âwenig Begabung zur Untreueâ beweist :
Liebhaber kamen ihr, sobald sie sie erst kennen gelernt hatte, nicht bezwingender vor
als Gatten, und es dĂŒnkte sie bald, daĂ sie ebensogut die Tanzmasken eines Neger-
stamms ernstnehmen könnte wie die Liebeslarven, die der europÀische Mann anlegt.
Nicht, daĂ sie niemals darĂŒber von Sinnen gekommen wĂ€re : aber es ging schon bei
den ersten Wiederholungsversuchen verloren ! [âŠ] MĂ€nner waren eine ErgĂ€nzung
und VervollstÀndigung des eigenen Körpers, aber kein seelischer Inhalt ; man nahm
sie, wie sie einen nahmen. (MoE 728 u. 732)
Mit den herkömmlichen Ausdrucksformen heterosexueller Zweisamkeit, NÀhe
oder gar Liebe in der noch stark patriarchalisch geprÀgten Vorkriegsgesell-
schaft weiĂ die verlorene junge Frau wenig anzufangen :
Die ausgefĂŒhrte Vorstellungswelt und Theatralik der Liebe lieĂ sie unberauscht. Diese
hauptsÀchlich vom Mann ausgebauten Regievorschriften der Seele, die alle darauf
hinauslaufen, daĂ das harte Leben hie und da eine schwache Stunde haben soll, â
mit irgendeiner Unterart des Schwachwerdens : dem Versinken, dem Ersterben, dem
Genommenwerden, dem sich Geben, dem Erliegen, dem VerrĂŒcktwerden und so
weiter â kamen ihr schmierenhaft ĂŒbertrieben vor, da sie sich in keiner Stunde anders
empfand als schwach, in einer von der StÀrke der MÀnner so vortrefflich erbauten
Welt. (MoE 728)
Im Vergleich zu Clarisses leidenschaftlichem Aufbegehren gegen die patriar-
chalische Ordnung der Liebe, das auch wegen seiner objektiven Aussichtslo-
sigkeit in den Wahnsinn mĂŒndet, beschreitet Agathe einen kontrĂ€ren Weg :
Angesichts jenes falschen Pathos der SchwÀche, mit dem die moralisch dis-
kreditierte SexualitÀt um 1900 unter der Hand verstohlen rehabilitiert und als
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208