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764 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Ausnahmeerscheinung mĂ€nnlicher Existenz zugleich dem angeblich âschwa-
chen Geschlechtâ zur Verantwortung anheimgegeben wird, nimmt sie Ă€uĂer-
lich eine Haltung teilnahmsloser Distanziertheit an und zieht sich innerlich
in die Phantasiewelt ihrer leidenschaftlichen ersten Ehe zurĂŒck, was ihr ein
ertrĂ€gliches Weiterleben ĂŒberhaupt erst ermöglicht.1257 Die extreme Verlogen-
heit, mit der sich die junge Frau in erotischer Hinsicht unaufhörlich konfron-
tiert sieht, wirkt sich in generalisierter Form auf ihre allgemeine Weltwahr-
nehmung aus, zumal ihr aufgrund ihrer geschlechtsspezifisch eingeschrÀnkten
Bildung kaum Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Sublimierung zur Ver-
fĂŒgung stehen, auf die ihr Bruder Ulrich stets zurĂŒckgreifen kann :
Die Philosophie, die Agathe auf solche Weise erwarb, war einfach die des weiblichen
Menschen, der sich nichts vormachen lĂ€Ăt und unwillkĂŒrlich beobachtet, was ihm
der mĂ€nnliche Mensch vorzumachen trachtet. Ja, es war ĂŒberhaupt keine Philoso-
phie, sondern nur eine trotzig verhehlte EnttÀuschung ; immer noch mit der verhal-
tenen Bereitschaft zu einer unbekannten Auflösung vermengt, die vielleicht sogar in
dem MaĂe zunahm, als sich die Ă€uĂere Auflehnung verminderte. (MoE 728 f.)
Agathes fortschreitende Desillusionierung geht also trotz der zunÀchst aus-
bleibenden intellektuellen Verarbeitung keineswegs mit einer Resignation in
die bestehenden UmstÀnde oder gar mit einem Amor Fati nach dem Beispiel
Walters einher, im Gegenteil : Sie bleibt der herrschenden Wirklichkeit gegen-
ĂŒber prinzipiell ablehnend eingestellt. Es ist dieser Aspekt ihrer âgenerativen
Formelâ, der eine wichtige Voraussetzung fĂŒr das VerstĂ€ndnis zwischen den so
unterschiedlichen und zugleich so Àhnlichen Geschwistern darstellt. Die er-
nĂŒchternde Beschreibung ihrer wenig erhebenden Erfahrungen mit verschie-
denen Vertretern des mĂ€nnlichen Geschlechts gereicht Musil ĂŒberdies zum
Medium ausdrĂŒcklicher Distinktion nicht nur gegenĂŒber anderen weiblichen
Romanfiguren des Mann ohne Eigenschaften (wie Leona, Bonadea, Clarisse
oder Diotima), sondern auch gegenĂŒber alternativen literarischen Reflexions-
formen des GeschlechterverhÀltnisses um 1900, wie folgender Passus zeigt :
Da Agathe belesen war, aber vermöge ihrer Natur nicht geneigt, sich auf Theorien
einzulassen, hatte sie oft Gelegenheit, wenn sie ihre eigenen Erlebnisse mit den Idea-
1257 Vgl. dagegen Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 197 : âDie Mechanismen der Ich-Vertei-
digung kehren [âŠ] ins Gegenteil um : statt eine Ausweichrolle fĂŒr die Entfaltung des repressi-
ven Ich zu schaffen, schlieĂen sie das Ich sukzessive in die Leere einer imaginĂ€ren Innerlich-
keit ein.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208