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765âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
len der BĂŒcher und des Theaters verglich, sich darĂŒber zu wundern, daĂ weder ihre
VerfĂŒhrer sie gefesselt hatten wie die Falle ein Wild, was dem donjuanischen Selbst-
bildnis entsprochen hÀtte, dessen Haltung sich damals ein Mann zu geben pflegte,
wenn er gemeinsam mit einer Frau ausrutschte, noch daĂ sich ihr Zusammenleben
mit ihrem Gatten strindbergisch zu einem Kampf der Geschlechter gestaltete, wo-
rin die gefangene Frau, wie es die Nebenmode war, ihren herrisch-unbehilflichen
Gebieter mit den Mitteln der List und SchwÀche zu Tode peinigte. Ihr VerhÀltnis zu
Hagauer war vielmehr, im Gegensatz zu ihren tieferen GefĂŒhlen fĂŒr ihn, immer ganz
gut geblieben. (MoE 729)
Die narrative Diagnostik, die der ErzÀhler hier aus Agathes Perspektive ent-
wickelt, zeugt nicht nur von Desillusionierung, sondern zielt auch auf sie und
entspricht damit Musils bereits erwĂ€hntem PlĂ€doyer fĂŒr die von ihm ausge-
machte neue weibliche âNĂŒchternheitâ (GW 8, 1198). Als affektive Seite von
Agathes âEigenschaftslosigkeitâ ist diese ihre NĂŒchternheit ein erster Schritt
in Richtung jener Objektivierung, welcher der Roman und sein ErzÀhler
die gesamte erzÀhlte Welt unterziehen und sich dabei auch der spezifischen
Perspektive der beiden Protagonisten bedienen. Im Gegensatz zu den seeli-
schen Aufgeregtheiten des naturalistischen (Strindberg), impressionistischen
(Schnitzler) oder des expressionistischen (Kokoschka) Dramas sind âgroĂe
Worte wie Schreck, Schock und Vergewaltigungâ (MoE 729), die der erregte
Ulrich zunÀchst zur Beschreibung der Erfahrungen Agathes mit MÀnnern
gebraucht, jedenfalls nicht angebracht, obgleich ihre zeitweilige Schicksalser-
gebenheit oberflĂ€chlich betrachtet durchaus dem traditionellen âweiblichenâ
Rollenbild entspricht â weshalb sie spĂ€ter selbst damit hadert :
Sie bedauere, dachte Agathe noch bei der Erinnerung daran widerspenstig, nicht als
ein Engel aufwarten zu können, es sei vielmehr alles in dieser Ehe sehr natĂŒrlich vor
sich gegangen. Ihr Vater hatte des Mannes Bewerbung mit vernĂŒnftigen GrĂŒnden
gestĂŒtzt, sie selbst hatte beschlossen, sich wieder zu verheiraten : gut, man tut es ;
man muà mit sich geschehen lassen, was dazu gehört ; es ist weder besonders schön,
noch ĂŒbermĂ€Ăig unangenehm ! Es tat ihr sogar jetzt noch leid, Hagauer bewuĂt zu
krĂ€nken, wo sie das unbedingt tun wollte ! Liebe hatte sie sich nicht gewĂŒnscht ; sie
hatte sich gedacht, es werde irgendwie gehn, er war ja ein guter Mensch. (MoE 729)
Wenn Musil seine weibliche Protagonistin in diesem Zusammenhang darĂŒ-
ber rÀsonieren lÀsst, dass ihre Erfahrungen mit MÀnnern keineswegs deren
seinerzeit beliebtem âdonjuanischen Selbstbildnisâ entsprechen, dann kriti-
siert er damit zudem auf indirekte Weise seinen Romanhelden, der im Ersten
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208