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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 769
Indirekt bestĂ€tigt findet sich somit Roland Barthesâ Diagnose, âdaĂ der Dis-
kurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit istâ3. Im 20. Jahrhundert erscheinen
die kulturell verbĂŒrgten Vereinigungsmodelle als unbefriedigend und brĂŒchig,
was sich auch in der avancierten Literatur niederschlĂ€gt â etwa in ihrer Verab-
schiedung traditioneller âRomanheldenâ : âDieser Befund der Weltverlorenheit
und Kommunikationslosigkeit des modernen Helden hat zu der These ge-
fĂŒhrt, daĂ Liebe in der Moderne paradoxerweise im Zeichen Ă€uĂerster Ein-
samkeit steht. [âŠ] Liebe ist mithin nicht die Sache inniger Zweisamkeit, [âŠ]
sondern sie wird zum Problem des Einen, der mit sich selbst allein bleibtâ4,
diesen Zustand aber stets zu ĂŒberwinden trachtet. Die âasozialeâ Tendenz der
zentralen Figuren Musils ist demnach stets als Funktion ihrer (unbefriedigen-
den) sozialen Verankerung zu verstehen und mithin durchaus auch unter so-
ziologischem Blickwinkel zu analysieren.5 Und wenn bestimmte âzwischen-
menschliche Vereinigungenâ als âfalschâ bezeichnet werden, dann impliziert
dies sowohl deren historische und soziale Bedingtheit als auch die Möglich-
keit oder gar Gebotenheit einer aktiven VerÀnderung.
Am Ende des Ersten Buchs verspĂŒrt auch Ulrich diesen Imperativ : âMan
hĂ€tte [âŠ] sagen können, daĂ seine Einsamkeit â ein Zustand, der sich ja nicht
nur in ihm, sondern auch um ihn befand und also beides verband â man hĂ€tte
sagen können, und er fĂŒhlte es selbst, daĂ diese Einsamkeit immer dichter
oder immer gröĂer wurde. Sie schritt durch die WĂ€nde, sie wuchs in die Stadt,
ohne sich eigentlich auszudehnen, sie wuchs in die Welt.â (MoE 664) Dem
will er nun endlich etwas entgegensetzen, durchaus analog zu den anderen
Romanfiguren, die alle auf ihre Weise versuchen, ihre existenzielle Einsam-
keit zu ĂŒberwinden. Sie stoĂen dabei jeweils an jene Grenzen, die ihnen von
der Gesellschaft und den vorgegebenen âGestaltungsformenâ gesetzt werden,
wobei diese nicht im Sinne starrer Vorgaben zu verstehen sind, sondern als
gegenseitige AbhĂ€ngigkeit, wie Ulrich weiĂ : â[I]ch werde anders und dadurch
auch das, was mit mir in Verbindung steht !â (MoE 664) Ein Einzelner allein
vermag hier allerdings wenig, und zugleich ist es nur die Abwendung von
der Gesellschaft, die ihm den Anschein vermittelt, ĂŒberhaupt etwas Bemer-
kenswertes zu vermögen. Ein solcher Anschein ist aber stets geprÀgt von der
sozialen Möglichkeitsbedingung, die ihm vorausgeht6 â genauso wie sein Ge-
3 Barthes : Fragmente einer Sprache der Liebe, S. [13].
4 Neumann : Androgynie und Inzest, S. 152.
5 Vgl. dazu den Abschnitt zu Ulrich und Agathe im Kap. II.3.1.
6 Vgl. dazu die allgemeinen Hinweise in Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie,
S. 243 f.; NĂŒbel : Relationismus und Perspektivismus, S. 151â153.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208