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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 777
sonders geeignet ist, diese Funktion der RĂŒckversicherung zu erfĂŒllenâ28. In
diesem Umstand liegt sicherlich ein Teil der enormen AttraktivitÀt Paul Arn-
heims fĂŒr das weibliche Romanpersonal begrĂŒndet. Ăhnliches gilt auch von
der Disposition zu ĂŒbersteigerter Romantik, die etwa bei Diotima zu beob-
achten ist :
Wenn die Frauen eine besondere Neigung zur romantischen oder romanhaften Liebe
haben, so wohl zum Teil deshalb, weil sie in ihrem besonderen Interesse liegt : Sie
verspricht ihnen nicht nur Befreiung von der mÀnnlichen Herrschaft. Sie eröffnet
ihnen zudem, sowohl in ihrer ĂŒblichsten Form, der Heirat, bei der sie in den mĂ€nn-
lichen Gesellschaften von unten nach oben zirkulieren, als auch in ihren auĂerge-
wöhlichen Formen einen â oft den einzigen â Weg zum sozialen Aufstieg.29
Bei Diotima scheint der in der Liebe zu Arnheim verborgene Aufstiegs- und
Befreiungswunsch allerdings merklich sublimiert, was als schichtspezifische
Ausformung dieser allgemeinen âweiblichenâ Disposition unter den Bedingun-
gen âmĂ€nnlicher Herrschaftâ gelten kann.
In seinem Roman stellt Musil die ĂŒberkommene symbolische Geschlech-
terordnung indes verschiedentlich auch augenzwinkernd auf den Kopf, etwa
am Beispiel des âFrĂ€ulein[s]â Dr. Strastil, einer dem Mann ohne Eigenschaf-
28 Ebd.
29 Ebd., S. 118, Anm. 13. An dieser Stelle zeigt sich wiederum eine entscheidende Differenz zwi-
schen soziologischer Feld- und Systemtheorie : WĂ€hrend Luhmann : Liebe als Passion, S. 180â
182, die reichlich abstrakte These vertritt, dass die romantische Liebe âdie Paradoxierung von
Zufall als Notwendigkeit, Zufall als Schicksal oder auch Zufall als Freiheit der Wahlâ hervor-
bringt, mithin âeiner VergröĂerung der Kontaktkreise Rechnungâ trĂ€gt sowie âeine Ausdehnung
des Code [sic] auf alle Schichten der Gesellschaft vorbereitetâ (also auf Zufallsbegegnungen be-
ruht, soziale Kontingenz steigert und schichtspezifische Schranken aufbricht), betont Bourdieu,
dass die romantische Liebe gerade von Emanzipationsbestrebungen der Frauen aus unteren
sozialen Lagen befördert wird und somit zwar eine gewisse Aufweichung der ĂŒberkommenen
Klassenschranken bedeutet, aber keineswegs ausschlieĂlich auf Zufall beruht ; sie wird im Ge-
genteil stÀndig von der Reproduktion einer strukturellen Asymmetrie zwischen Mann und Frau
begleitet. Mit anderen Worten : Romantische Liebe kann zwar Klassenschranken ĂŒberwinden,
setzt aber die ungleiche Machtverteilung zwischen Mann und Frau hÀufig gerade voraus, um
ihre soziale Kraft zu entfalten. Dem in der romantischen Liebe durch den Anschein bloĂer Kon-
tingenz wirksamen PhÀnomen einer Verschleierung sozialer Reproduktion wird Luhmanns von
historischen Selbstbeschreibungen ausgehende, rein semantische Analyse nicht gerecht. Vgl.
dagegen Becker : Liebe, S. 625â635, der mit Blick auf den französischen Adel des 17. Jahrhun-
derts empirisch nachweist, dass die entstehende passionierte Liebe soziologisch eine doppelte
Funktion erfĂŒllt : die Emanzipation der Frau voranzutreiben und die Reproduktion symbolischen
Kapitals zu verschleiern.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208