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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld782
Mit anderen Worten :
Genauso wie die Frauen in den weniger differenzierten Gesellschaften als Tausch-
mittel behandelt wurden, die den MĂ€nnern die Akkumulation sozialen und symbo-
lischen Kapitals durch Heiraten gestatteten â diese wirklichen Investitionen, die mehr
oder minder weitreichende BĂŒndnisse zu schlieĂen erlauben â, genauso leisten sie
heute einen entscheidenden Beitrag zur Produktion und Reproduktion des symbo-
lischen Kapitals der Familie. Und zwar in erster Linie, indem sie durch all das, was
zu ihrer Ă€uĂeren Erscheinung beitrĂ€gt, Kosmetik, Kleidung, Haltung usf., das sym-
bolische Kapital der hÀuslichen Gemeinschaft in Erscheinung treten lassen. Daher
werden sie der SphÀre des Scheins, des Gefallens zugeordnet.43
Hinsichtlich der Ehe sind die symbolischen Aspekte generell von nicht zu
unterschĂ€tzender Bedeutung â etwa die in zahlreichen BenimmbĂŒchern und
Konversationslexika des 19. Jahrhunderts bemĂŒhte âDramaturgie fĂŒr das Ver-
hĂ€ltnis der Geschlechterâ â,
zeigen sie doch bei aller Ăbertreibung, worauf die gesellschaftliche Entwicklung
hinauslief : auf die Sentimentalisierung der weiblichen und der mÀnnlichen Arbeits-
bereiche und ihre Ausstattung mit Attributen, die [âŠ] nicht mehr aus den TĂ€tig-
keiten der Frau und des Mannes, sondern aus der ideologischen Konstruktion ihres
Geschlechtscharakters abgeleitet wurden. Das erwies sich insofern als besonders
erfolgreich, als eine solche, von den TatsÀchlichkeiten abstrahierende Fassung der
Geschlechtscharaktere sozialen Wandel unbeschadet zu ĂŒberstehen vermochte.44
Wie der Wiener Historiker Reinhard Sieder betont hat, sollte noch im 20. Jahr-
hundert âdie Zuschreibung von mĂ€nnlichen Charaktereigenschaften fĂŒr die
Masse der Menschen gĂŒltig bleiben und plausibel erscheinenâ45, mit einschnei-
denden Konsequenzen insbesondere fĂŒr die weibliche HĂ€lfte der Bevölkerung :
FĂŒr die Frauen des BĂŒrgertums blieben Ehe und Familie die einzige gesellschaftliche
Bestimmung [âŠ]. Ledig bleibende Frauen fielen ihrer Herkunftsfamilie, einer ver-
heirateten Schwester etc. zur Last und wurden â pejorative Bezeichnungen wie âalte
Jungferâ u. Ă€. belegen es â wenig geschĂ€tzt. Andrerseits war auch der bĂŒrgerliche
Mann auf den Ehestand weitgehend angewiesen, wollte er sich âin geordneter Weiseâ
43 Ebd., S. 170 f.
44 Sieder : Sozialgeschichte der Familie, S. 133.
45 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208