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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld786
geschlechtsspezifisch getrennter Sozialisations- und Bildungszieleâ wurde
eben âauch die Familie, wichtigster Ort der Frauenâ, in der Weimarer Repu-
blik und der österreichischen Ersten Republik ânicht vom sozialen Wandel
verschontâ.58 FĂŒr die Zeit um und nach 1900 gilt aber allen anderslautenden
Unkenrufen zum Trotz noch als weithin anerkannte Regel : âDie legitime Aus-
ĂŒbung der SexualitĂ€t bleibt [âŠ] auf die Ăbertragung des Erbes durch Heirat
zu- und ihr untergeordnet, die [âŠ] einer der legitimen Wege des Vermögen-
stransfers ist.â59 Dies gilt es zu bedenken, wenn man hinsichtlich des Mann
ohne Eigenschaften konstatiert, dass es âim ganzen Roman keine einzige Bezie-
hungâ gibt, âin der SexualitĂ€t kein Problem darstelltâ.60
Die fiktionalen EhemĂ€nner â in gleicher Weise der Vater Leo Fischel wie
Walter und Hans Tuzzi, beide kinderlos â erweisen sich als ĂŒberzeugte An-
hÀnger des traditionellen Modells ehelicher SexualitÀt, wÀhrend die vom tris-
ten Ehealltag enttÀuschten und zugleich mit dem eklatanten Legitimations-
verlust der nach wie vor bestehenden âmĂ€nnlichen Herrschaftâ konfrontierten
Ehefrauen â jede auf ihre Art â innerlich lĂ€ngst von ihm Abstand genommen
haben und in verschiedenen zeittypischen Modediskursen Zuflucht suchen.
Dies hat eine ĂŒber die engeren Grenzen der Institution Ehe hinausgehende
Relevanz :
des Ersten Weltkrieges fiel die Zahl der Scheidungen, um nach dem Krieg rapide anzusteigen.
Der erste Scheidungshöhepunkt wurde 1921 mit 5.218 Scheidungen im Gebiet der Republik
Ăsterreich erreicht. Die relative ökonomische StabilitĂ€t nach der Genfer Sanierung schwĂ€chte
die ScheidungsintensitÀt etwas ab, um in der Weltwirtschaftskrise wieder die Zahl von 1921 zu
erreichen und zu ĂŒbertreffen (Höhepunkt 1930 mit 5.774 Scheidungen). Die Zahl der Ehetren-
nungen (echte Scheidungen) folgte diesem Trend. Der absolute Höhepunkt wurde 1934 mit
784 Ehetrennungen erreicht. Auch die Zahl der UngĂŒltigkeitserklĂ€rungen der Ehe stieg steil
an. Waren es nur 17 im Jahre 1913, waren es in der Zeit des StĂ€ndestaates 300 bis 400 pro Jahr.â
Katholiken bot sich erst nach 1919 der von der Sozialdemokratie eröffnete âNotausgang der Dis-
pensehen (Sever-Ehen)â an : â1930 soll es in Ăsterreich 50.000 Dispensehen gegeben haben.â
(S. 165) Auch das spÀtere Ehepaar Musil, dessen Heirat ja von der Einwilligung Enrico Marco-
valdis â des bisherigen (zweiten) Gatten Marthas â abhĂ€ngig war, hatte mit dem rĂŒckstĂ€ndigen
österreichischen Scheidungsrecht erheblich zu kĂ€mpfen ; vgl. Corino : Musil [2003], S. 357â362.
58 Frevert : Frauen-Geschichte, S. 180. âObwohl der Demokratisierungsanspruch der Weimarer
Verfassung, die die Familie auf der Gleichberechtigung der Geschlechter gegrĂŒndet wissen
wollte, nicht eingelöst und noch nicht einmal auf gesetzlicher Ebene verwirklicht wurde â eine
Revision des patriarchalischen BGB fand nicht statt â, wirkten demographische und sozioöko-
nomische Trends in die Familie zurĂŒck und fĂŒhrten zu strukturellen VerĂ€nderungen, die von
Zeitgenossen interessiert registriert wurden.â (S. 180 f.)
59 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 167.
60 So Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 242.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208