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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld792
Aufgehens in einer Unio mystica bleibt das trennende principium individuatio-
nis bestehen, die Grenzen der eigenen Person können von Walter und Clarisse
nicht durchbrochen werden.73
Bei genauerer Betrachtung erweist sich das als Nietzsche-Parodie insze-
nierte gemeinsame Klavierspiel als kennzeichnend fĂŒr den verfahrenen Zu-
stand der erst dreijĂ€hrigen Ehe. Die zerrĂŒttete Beziehung der Eheleute zuei-
nander ist zutiefst imprĂ€gniert von trivialisierten VersatzstĂŒcken des damals
in Wien grassierenden Geniediskurses74 : âSie hatte Walter seit ihrem fĂŒnf-
zehnten Jahr fĂŒr ein Genie gehalten, weil sie stets die Absicht gehabt hatte,
nur ein Genie zu heiraten.â (MoE 53) Der ErzĂ€hlerkommentar, dessen tauto-
logische BegrĂŒndungsstruktur seine ironische Absicht offenlegt, deutet wie-
derum auf die katathyme Struktur von Clarisses Denken75, die ihre ehrgei-
zigen Hoffnungen angesichts der herrschenden Geschlechterordnung nur in
einen Mann projizieren kann. Mehr noch : Sie verweist auf die konsolatorische
Funktion von Walters Rolle fĂŒr Clarisse, indem sie ihn nach dem sexuellen
Missbrauch durch den eigenen Vater, der âdamalsâ eine âGewaltperson fĂŒr sieâ
(MoE 436) war, einem mÀrchenhaften Narrativ entsprechend als prinzenhaf-
ten Retter imaginierte :
Sie wuĂte damals noch gar nichts von der Welt. Sie glaubte auch nichts von dem, was
man ihr darĂŒber erzĂ€hlte, die Eltern, der Ă€ltere Bruder : das waren klappernde Worte,
ganz gut und ganz schön, aber man konnte sich nicht aneignen, was sie sagten ; man
konnte einfach nicht, so wenig wie ein chemischer Körper einen anderen aufnimmt,
der ihm nicht âeignetâ. Dann kam Walter, das war der Tag ; von diesem Tag an war
alles âeigenâ. Walter trug einen kleinen Schnurrbart, ein BĂŒrstchen ; er sagte : FrĂ€ulein ;
mit einemmal war die Welt keine wĂŒste, regellose, zerbrochene FlĂ€che mehr, son-
dern ein schimmernder Kreis, Walter ein Mittelpunkt, sie ein Mittelpunkt, zwei in
einen zusammenfallende Mittelpunkte waren sie. (MoE 145)
Die durch Walter vermittelte neue âEigenschaftlichkeitâ der Welt hat offen-
sichtlich Kompensationscharakter, und dasselbe gilt fĂŒr die Projektionen Cla-
risses auf ihn : â[D]amals, als Walter und sie geheiratet hattenâ, âda hatte sie
73 Vgl. auch Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 237.
74 Nach Ackerl : Wiener Salonkultur um die Jahrhundertwende, S. 702 f., konzentrierte sich etwa
Alma Mahler-Werfel, die ihre Selbstspiegelung in âgenialen MĂ€nnernâ zu ihrem âDaseinszweckâ
schlechthin erhöhte, âbewuĂt darauf, nur Genies in ihrer Umgebung zu dulden. Nicht irgend-
welche MĂ€nner interessierten sie, sondern sie muĂten zumindest genial seinâ. Eine zeitgenössi-
sche kritische Analyse des Geniekults findet sich in Zilsel : Die Geniereligion.
75 Vgl. dazu die Figurenanalyse Clarisses in Kap. II.2.2.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208