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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 793
jene unangenehme Selbstsucht zu zweien gezeigt, die junge, in ihren Mann
ehrgeizig verliebte Frauen fĂŒr andere MĂ€nner oft so unertrĂ€glich macht.â
(MoE 54) Auch Letzteres ist â wie bereits angedeutet â ein Produkt der
âmĂ€nnlichen Herrschaftâ. Die ehrgeizige Clarisse hatte gehofft, âdaĂ Walter ein
noch gröĂeres Genie sein werde als Nietzscheâ (MoE 146), weil sie eine posi-
tive Vorstellung von MĂ€nnlichkeit nach ihren traumatisierenden Erfahrungen
prinzipiell an den Gedanken der GenialitĂ€t knĂŒpft, mit dem sie âgegen eine
banale Liebesordnungâ aufbegehrt.76 Als sich allmĂ€hlich abzeichnet, dass ihre
Hoffnung sich nicht erfĂŒllen werde, âerlaubtâ sie ihm einfach ânicht, keines zu
seinâ (MoE 53). Sie vermag vom KĂŒnstlerkontext ihrer Kindheit und Jugend
genauso wenig abzusehen wie vom fast mÀrchenhaften Geniekult ihrer Verlo-
bungszeit und frĂŒhen Ehe.
Und als sie sein Versagen merkte, wehrte sie sich wild gegen diese erstickende, lang-
same VerÀnderung in ihrer LebensatmosphÀre. Gerade da hÀtte nun Walter mensch-
liche WÀrme gebraucht, und er drÀngte, wenn ihn seine Ohnmacht quÀlte, zu ihr wie
ein Kind, das Milch und Schlaf sucht, aber Clarissens kleiner, nervöser Leib war nicht
mĂŒtterlich. [âŠ] Sie verhöhnte die wallende WaschkĂŒchenwĂ€rme[77], in der er Trost
suchte. Es kann sein, daĂ das grausam war. Aber sie wollte die GefĂ€hrtin eines groĂen
Menschen sein und rang mit dem Schicksal. (MoE 53)
Im Anschluss an die Vorarbeiten Götz MĂŒllers78 hat Stefan Howald gezeigt,
dass âMusil damit die Genieproblematik Nietzsches auf zwei Personen zer-
teilt. WĂ€hrend Nietzsche behauptet, das Genie mĂŒsse die Kraft zu seiner
Gesundung in sich finden, versucht Clarisse, das Genie in Walter von aussen
herauszuzwingen.â79 Ăber die bloĂe figurative Verkörperung von Nietzsches
Reflexionen ĂŒber das Genie80 hinaus lĂ€dt Musil die figurale Konstellation aber
auch gendertheoretisch auf und verleiht ihr damit ungeahnte âsoziale Energieâ.
So lĂ€sst sich Clarisses andauernde sexuelle Verweigerung gegenĂŒber Walter
(vgl. MoE 49 u. 67) aus dessen âmĂ€nnlichâ codierter Perspektive, die die herr-
schende Moral auf ihrer Seite weiĂ, nur als fehlende âsittliche Reifeâ begreifen ;
76 Vgl. Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 247.
77 Die Alliteration âwallende WaschkĂŒchenwĂ€rmeâ in Clarisses indirekt wiedergegebenen höh-
nischen Worten ĂŒber Walter kann als ironische Anspielung auf die HĂ€ufung von Stabreimen in
Wagners Operntexten gelesen werden ; vgl. Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 115.
78 Vgl. MĂŒller : Ideologiekritik und Metasprache, S. 27â31.
79 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 238.
80 Vgl. dazu auch die ausfĂŒhrliche Darstellung in Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 159â
188.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208