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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld800
noch stark von den Anschauungen des 19. Jahrhunderts geprÀgte Welt des
kakanischen Wien :
Das bĂŒrgerliche Heim erhielt [âŠ] den Charakter eines Refugiums, in das sich der BĂŒrger
vor den HĂ€rten des Konkurrenzkampfes im Berufs- und Wirtschaftsleben zurĂŒckzie-
hen konnte. Seine Ausgestaltung hing mit der prononcierten Formulierung der âGe-
schlechtscharaktereâ auf das engste zusammen, so daĂ schwer zu sagen ist, ob die Idee
des bĂŒrgerlichen âHeimesâ die Rolle seiner âHĂŒterinâ, oder die Idee der âidealen Hausfrauâ
das Heim stĂ€rker geprĂ€gt hat. Jedenfalls wurde die Frau [âŠ] in die private SphĂ€re des
Hauses eingeschlossen, der Mann zog in die Welt. Der reale ProzeĂ der Differenzierung
der Gesellschaft in private, hĂ€usliche Lebensbereiche (wobei âhĂ€uslichâ eine ganz neue
Bedeutung bekam) einerseits und in die Berufswelt andrerseits hatte weitreichende ide-
ologische Folgen. Die Frau wurde auf Charaktereigenschaften festgeschrieben, die sie fĂŒr
die Familie und fĂŒr das Heim prĂ€destiniert erscheinen lieĂen. Zugleich entstand das Bild
des Mannes, der im Erwerbsleben keine MĂŒhen und kein Risiko scheute.98
Ungeachtet âdes gewaltigen Sentimentalisierungsspektakelsâ, das die zeitge-
nössische Diskursivierung der bĂŒrgerlichen Ehe letztlich darstellte, spielten âfĂŒr
die SchlieĂung vieler bĂŒrgerlicher Ehen immer noch harte, rationale GrĂŒndeâ
eine entscheidende Rolle.99 So berichtet Michael Pollak ĂŒber die Wiener Jahr-
hundertwende : âIn der gehobenen Gesellschaft wurden die Ehen arrangiert
oder zumindest von den Eltern und den AnwÀlten der beiden Familien in die
Wege geleitet. Die Verhandlungen ĂŒber die wirtschaftlichen und finanziellen
Aspekte der Ehe waren oft sehr umfangreich und erwiesen sich als von groĂer
Bedeutung.â100 Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die sozialen Gegeben-
heiten der Heirat zwischen Hans und Ermelinda Tuzzi, denn in Diotimas Fa-
milie war âkein Geld fĂŒr die Heiratskaution vorhandenâ (MoE 267). Auch von
dieser Seite her wird ihre Verbindung folglich als zeittypische Ehe zweier Auf-
steiger gekennzeichnet, die eher vom Versprechen eines zukĂŒnftigen gegen-
seitigen Nutzens als von ĂŒbergroĂer SentimentalitĂ€t geprĂ€gt scheint.101 Dem
genau beobachtenden Ulrich bleibt die habituelle Distanz zwischen den beiden
Eheleuten denn auch nicht verborgen : â[W]enn er sich Tuzzis scharf-zartes
98 Sieder : Sozialgeschichte der Familie, S. 132.
99 Ebd., S. 133.
100 Pollak : Wien 1900, S. 212.
101 Vgl. Perrot : Rollen und Charaktere, S. 142 f.: âJedes EhebĂŒndnis wurde [âŠ] sorgfĂ€ltig erwo-
gen ; âunpassende Verbindungenâ wurden untersagt. [âŠ] FĂŒr MĂ€nner, die gesellschaftlich im
Aufstieg begriffen waren, zĂ€hlte weniger das Geld der zukĂŒnftigen Ehegattin als deren soziale
Stellung, ihre Vornehmheit, ihre hausfraulichen QualitĂ€ten und, nicht zuletzt, ihre Schönheit.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208