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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 803
Hause befand oder nicht, und ob dieses LĂ€cheln â falls er wirklich lĂ€chelte, was kei-
neswegs immer sicher war â in besonderer Weise ihr galt oder nur zu dem Gesichts-
ausdruck eines Mannes gehörte, der von Berufswegen jederzeit ĂŒberlegen aussehen
muĂ, es wurde ihr mit der Zeit immer unertrĂ€glicher, ohne daĂ sie sich von dem
infamen Schein von Berechtigung zu befreien vermochte, den es sich anmaĂte. (MoE
106)
Die Diplomatengattin empfindet ihre Ehe als regelrechte physiologische
âZwangsherrschaftâ (MoE 106) auf der Basis sexueller AbhĂ€ngigkeit und
Unterwerfung. Ihre in die Parallelaktion gesetzten gewaltigen persönlichen
Hoffnungen erscheinen vor diesem demĂŒtigenden Hintergrund umso nach-
vollziehbarer :
Diotima war sicher, daĂ etwas Unvergleichliches geschehen werde, und rief ihre vie-
len Ideale auf ; sie mobilisierte das Pathos ihrer Geschichtsstunden als kleines MĂ€d-
chen, wo sie mit Reichen und Jahrhunderten rechnen gelernt hatte ; sie tat ĂŒberhaupt
alles, was man in einer solchen Lage tun muĂ, aber nachdem einige Wochen in dieser
Weise vergangen waren, muĂte sie beobachten, daĂ ihr keineswegs etwas eingefallen
war. Es wÀre Haà gewesen, was Diotima in diesem Augenblick gegen ihren Gatten
empfand, wenn sie des Hasses â einer niederen Regung ! â ĂŒberhaupt fĂ€hig gewesen
wĂ€re ; deshalb wurde es Schwermut, und ein bis dahin unbekannter âGroll gegen allesâ
stieg in ihr auf. (MoE 107)
Die AbhĂ€ngigkeit des ĂŒbersteigerten Idealismus der SalonniĂšre von ihrem un-
befriedigenden ehelichen Liebesleben wurde oben bereits ausfĂŒhrlich erör-
tert.109 Bezeichnenderweise richtet sich ihr Groll ĂŒber das Ausbleiben ihrer
hochfliegenden Erwartungen nicht gegen diese selbst, sondern gegen ihren
Mann, den negativen Bezugspunkt all ihrer heimlichen SehnsĂŒchte, der in sei-
nem naiven Paternalismus zunĂ€chst gar nicht weiĂ, wie ihm geschieht. Umge-
kehrt beginnt fĂŒr den trockenen Tuzzi seine Ehe nĂ€mlich erst dann zu einem
nachdenkenswerten Thema zu werden, als Diotima ihre Bekanntschaft mit
Arnheim intensiviert :
Der kleine Sektionschef [âŠ] begriff nicht, was vor sich ging. Es war ihm einigemal
aufgefallen, daà seine Frau wÀhrend der Anwesenheit der GÀste einen eigenartig
vertrÀumten, in sich gekehrten, fernen und hochnervösen Eindruck mache, wirklich
nervös und irgendwie hoch abwesend zugleich ; aber wenn sie allein waren, und er,
109 Vgl. die einschlÀgigen Passagen im Kap. II.2.2.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208