Seite - 810 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 810 -
Text der Seite - 810 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld810
ihrem und ihres Mannes Bett steht.â (Tb 1, 414) Oder : âSie raunzt öffentlich
mit ihrem Mann : Wenn du vielleicht auch mit mir einmal spazieren gehen
willst udgl.â (Tb 1, 414) Eine konzeptionell bemerkenswerte zeithistorische
Aufladung erhalten solche ansonsten eher vernachlÀssigbaren anekdotischen
Mitteilungen erst durch die Anreicherung mit dem PhÀnomen des Antise-
mitismus, das als diskursive Infiltration der intimsten ehelichen Bereiche je-
nen âGriff des Staates in die PrivatsphĂ€reâ prĂ€ludiert, den dann die âautoritĂ€re
und totalitĂ€re Wendeâ der dreiĂiger Jahre mit sich brachte.117 In dieser Hin-
sicht vermutet der biografisch argumentierende Corino : âEs scheint, als hĂ€tte
Musil die Spannungen und Abschreckungsstrategien in der Ehe der Reichles
[âŠ] stilisiert im Hinblick auf die Kontroversen, die der Wiener BĂŒrgermeister
Karl Lueger und seine christlichsoziale Partei in die österreichischen Politik
brachten.â118 Die den beiden Fischels zugeschriebenen charakteristischen
habituellen Begleiterscheinungen ihrer wechselseitigen Entfremdung konnte
Musil tatsĂ€chlich nicht aus den biografischen Modellen beziehen â was auf
ihre besondere ErzĂ€hlfunktion schlieĂen lĂ€sst :
Seit die Laufbahn Leos zögernd auf dem Posten eines Börsendisponenten stecken
geblieben war, vermochte Klementine nicht mehr, gewisse seiner Eigenheiten damit
zu entschuldigen, daĂ er eben nicht in einem spiegelstillen alten MinisterialbĂŒro, son-
dern am âsausenden Webstuhl der Zeitâ sitze, und wer weiĂ, ob sie ihn nicht gerade
wegen dieses Goethezitats geheiratet hatte ? ! Sein ausrasierter Backenbart, der sie
seinerzeit gemeinsam mit dem auf der Mitte der Nase thronenden Kneifer an einen
englischen Lord mit Favorits erinnert hatte, mahnte sie jetzt an einen Börsenmakler,
und einzelne Angewohnheiten in GebÀrde und Redeweise begannen ihr geradezu
unertrÀglich zu werden. (MoE 203 f.)
WĂ€hrend Leo wie ehedem seiner beruflichen TĂ€tigkeit als Prokurist nachgeht
und die ihn umgebende Ă€uĂere Welt â analog zu seiner steckengebliebenen
Karriere â fĂŒr unverĂ€nderlich ansieht, verficht Klementine neuerdings das of-
fenbar an ihren BrĂŒdern gemessene âchristlich-germanische Schönheitsideal
eines Ministerialratsâ (MoE 204) und beklagt die Abweichung davon bei ih-
rem Gatten119 â als wĂ€re ihr dessen Erscheinung nicht schon vor der Hoch-
zeit bekannt gewesen. âJĂŒdischesâ Aussehen erweist sich dergestalt als Frage
der eingenommenen Perspektive. An diesem Beispiel verdeutlicht Musil die
117 Hanisch : MĂ€nnlichkeiten, S. 212 ; mehr dazu ebd., S. 182â185 u. bes. S. 216â222.
118 Corino : Musil [2003], S. 893.
119 Vgl. dazu und zu den diskursiven HintergrĂŒnden ebd. u. S. 1724, Anm. 126.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208