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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld822
rische Praxis jedoch mit umso idealistischeren moralischen Verlautbarungen
seitens der âsĂŒndigenâ Frau einhergeht. Ihre schonungslose erzĂ€hlerische Dar-
stellung deckt die strukturellen ZwĂ€nge auf, denen Frauen unter âmĂ€nnlicher
Herrschaftâ auf dem Markt der symbolischen GĂŒter ausgesetzt sind und durch
die sie zu den widersprĂŒchlichsten Diskursivierungen und Praxisformen ge-
trieben werden :
Sind sie doch aufgefordert, alles daranzusetzen, daĂ sie gefallen und bezaubern, und
zugleich vepflichtet, den VerfĂŒhrungsmanövern zu widerstehen, die, wie es scheinen
mag, diese Art vorauseilender Unterwerfung unter das Urteil des mÀnnlichen Blicks
hervorgerufen hat. Diese widersprĂŒchliche Verbindung von SchlieĂung und Ăffnung,
ZurĂŒckhaltung und Verlockung ist um so [sic] schwerer erkennbar, als sie der Ein-
schĂ€tzung der MĂ€nner unterliegt, die unbewuĂte oder interessengeleitete Interpreta-
tionsfehler begehen können.148
Bonadea teilt diese widersprĂŒchlichen Erwartungen in unterschiedliche
Schichten ihrer Persönlichkeit auf, indem sie moralisch spricht und unmo-
ralisch handelt. Den mĂ€nnlichen âInterpretationsfehlernâ hilft sie freilich auf
recht handfeste Weise nach â ganz anders als ihre jĂŒngere und ungleich ver-
schÀmtere Geschlechtsgenossin Gerda Fischel, die den von Bonadea nur
diskursiv verlautbarten gesellschaftlichen Moralvorstellungen auch praktisch
folgt und sich damit in eine ausweglose Aporie begibt.
Wie schon angedeutet, leidet Gerda sehr an ihrem Junggesellentum und
ihrer JungfrÀulichkeit im Alter von 23 Jahren. Ein Grund und zugleich eine
Folge dieses tatsÀchlich immer drÀngenderen Problems149 ist ihr komplexbe-
148 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 120.
149 Zu den Begleiterscheinungen des weiblichen âJunggesellentumsâ vor dem Ersten Weltkrieg
erlĂ€utert Perrot : AuĂenseiter, S. 297 : âUnverheirateten wurde MiĂtrauen entgegengebracht.â
Wie sie weiter ausfĂŒhrt, âbeargwöhnte die Gesellschaft eine unverheiratete Person als âver-
trocknete Fruchtâ. [âŠ] Eine unverheiratete Frau blieb ein âFrĂ€uleinâ, das heiĂt, ein Nichts, ja,
schlimmer noch, man nannte sie ein âspĂ€tes MĂ€dchenâ, eine âunnormale alte Jungferâ oder eine
âDeklassierteâ.â (S. 297â299) Das bedeutete : âFrauen, die aus freiem EntschluĂ, gezwungener-
maĂen oder resigniert allein lebten, befanden sich stets in einer schwierigen, da nicht vorgese-
henen Situation. [âŠ] AuĂerhalb von Haushalt und Ehe war fĂŒr die Frau kein Heil zu finden.
[âŠ] Erst im 20. Jahrhundert entstand unter dem EinfluĂ von Feministinnen und Schriftstellern
[âŠ] ein anderes Bild von der alleinstehenden Frau ; Frauen hatten nun endlich ein Recht auf
Ehelosigkeit.â (S. 304 f.) Die mentalitĂ€tsgeschichtliche Forschung bestĂ€tigt, dass um 1900 âdie
Zahl alleinlebender Frauen in den GroĂstĂ€dten sprunghaft anstiegâ (S. 305). Einen weiteren
sozialhistorischen â und bei Gerda durchaus naheliegenden â Hintergrund fĂŒr das damals vor-
herrschende BedĂŒrfnis junger Frauen nach rascher EheschlieĂung benennt Perrot : Rollen und
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208