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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld824
aufgezwungen wird. Sie variiert sehr stark je nach Geschlecht und Position im sozia-
len Raum.151
Insbesondere fĂŒr Frauen unter den Bedingungen âmĂ€nnlicher Herrschaftâ ist
die eigene Körpererfahrung hĂ€ufig eine prekĂ€re Angelegenheit, denn : âAlles
in der Genese des weiblichen Habitus und dessen Aktualisierungsbedingun-
gen wirkt darauf hin, aus der weiblichen Körpererfahrung den Extremfall der
allgemeinen Erfahrung des Körpers-fĂŒr-andere zu machen, der unablĂ€ssig der
Objektivierung durch den Blick und die Reden der anderen ausgesetzt ist.â152
Angesichts des Umstandes, dass der weibliche Leib der Betrachtung durch
âAndereâ in besonderer Weise exponiert wird, entspricht es einer gewissen Lo-
gik, dass Gerdas problematische Körpererfahrung in mancher Hinsicht an jene
Rachels erinnert, auf die in der vorliegenden Untersuchung nicht gesondert
eingegangen werden kann :
Wenn Rachel [âŠ] mit dem Frottiertuch Diotimas Körper so dreist abtrocknen durfte,
als wĂ€re es ihr eigener Körper, so machte ihr das viel mehr VergnĂŒgen, als wenn es
wirklich bloà ihr eigener Körper gewesen wÀre. Der kam ihr nichtig und vertrauens-
unwĂŒrdig vor, es lag ihr ferne, auch nur vergleichsweise an ihn zu denken, ihr war,
wenn sie die statuenhafte FĂŒlle Diotimas berĂŒhrte, zumute wie einem BauernlĂŒmmel
von Rekrut, der einem strahlend schönen Regiment angehört. (MoE 167)
Folgt man den Analysen Bourdieus, dann ist die Selbstwahrnehmung des ei-
genen Leibes als ânichtig und vertrauensunwĂŒrdigâ charakteristisch fĂŒr jene
Frauen, die in besonderer Weise Opfer der âmĂ€nnlichen Herrschaftâ geworden
sind, was im Fall der von einem Mann verfĂŒhrten und danach vom eigenen
Vater verstoĂenen Rachel unmittelbar einleuchtet. Weniger offensichtlich ist
diese Opferrolle bei Gerda, wo sie sich allenfalls an der ĂŒbersteigerten Aneig-
nung der seinerzeit herrschenden geschlechtsspezifischen Sexualnormen153
veranschaulichen lÀsst. Ihre schwierige Beziehung zu Ulrich, die in einem zeit-
typischen154, fĂŒr beide höchst peinlichen hysterischen Anfall in Ulrichs Bett
kulminiert, soll einer Mikroanalyse unterzogen werden. Gerdas Verhalten er-
innert hinsichtlich der sich in ihm â aufgrund der Spannung zwischen den
151 Ebd., S. 116.
152 Ebd., S. 112.
153 Vgl. dazu Pollak : Wien 1900, S. 215 u. 217 f. Eine (aus dem RĂŒckblick erfolgende) suggestive
Darstellung eines Zeitgenossen findet sich in Zweig : Die Welt von Gestern, S. 97 f.
154 Corbin : Schreie und FlĂŒstern, S. 591, berichtet ausdrĂŒcklich von Frauen, âdie Angst hatten,
keinen Mann zu findenâ, und deshalb Symptome der Hysterie an den Tag legten.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208