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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 831
betrifft, benennt Pekar die âentscheidende Diskrepanzâ zwischen den beiden :
Die Frau nimmt von den Worten des Mannes â kontrĂ€r zu Wilhelm Meisters
Natalie â ânur die Sinnlichkeitâ auf, âmit der Ulrich sprichtâ.169 TatsĂ€chlich
sticht die topische Differenz zwischen der von Beginn an körperlich erregten
Frau und dem endlos rĂ€sonierenden Mann, auf den sich die âweiblicheâ Sinn-
lichkeit erst allmĂ€hlich ĂŒbertrĂ€gt, unmittelbar ins Auge :
Ulrich, der nun etwas VerstĂ€ndliches sagen wollte, benĂŒtzte die Gelegenheit, um
beilÀufig darauf hinzuweisen, daà ja auch die Liebe zu den religiösen und gefÀhr-
lichen Erlebnissen gehöre, weil sie den Menschen aus den Armen der Vernunft hebe
und ihn in einen wahrhaftig grundlos schwebenden Zustand versetze. / Ja, â sagte
die Dame â aber Sport sei doch roh. GewiĂ, â beeilte sich Ulrich, es zuzugeben â
Sport sei roh. Man könne sagen, der Niederschlag eines feinst verteilten, allgemeinen
Hasses, der in Kampfspielen abgeleitet wird. Man behaupte natĂŒrlich das Gegenteil,
Sport verbinde, mache zu Kameraden und dergleichen ; aber das beweise im Grunde
nur, daĂ Roheit und Liebe nicht weiter von einander entfernt seien als der eine FlĂŒgel
eines groĂen bunten stummen Vogels vom andern. / Er hatte den Ton auf die FlĂŒgel
und den bunten, stummen Vogel gelegt, â ein Gedanke ohne rechten Sinn, aber voll
von einem wenig jener ungeheuren Sinnlichkeit, mit der das Leben in seinem maĂ-
losen Leib alle nebenbuhlerischen GegensÀtze gleichzeitig befriedigt ; er bemerkte
nun, daĂ seine Nachbarin das nicht im geringsten verstand, dennoch war der weiche
Schneefall, den sie im Wagen verbreitete, noch dichter geworden. Da wandte er sich
ihr ganz zu und fragte, ob sie vielleicht eine Abneigung habe, von solchen körper-
lichen Fragen zu sprechen ? Das körperliche Treiben komme ja wirklich schon zu
sehr in Mode, und im Grunde schlieĂe es ein grauenvolles GefĂŒhl ein, weil der Kör-
per, wenn er ganz scharf trainiert sei, das Ăbergewicht habe und auf jeden Reiz, ohne
zu fragen, mit seinen automatisch eingeschliffenen Bewegungen so sicher antworte,
daĂ dem Besitzer nur noch das unheimliche GefĂŒhl des Nachsehens bleibt, wĂ€hrend
ihm sein Charakter mit irgendeinem Körperteil gleichsam durchgeht. (MoE 29 f.)
Gezielt fordert Ulrich Bonadeas kaum versteckte Sinnlichkeit heraus, indem
er die bisher nur im Modus der Verneinung prÀsenten erotischen Aspekte des
Körperthemas immer enger umkreist und zuletzt auf die bewusstseinsmĂ€Ăig
unkontrollierte Eigendynamik körperlicher Bewegungen abhebt. Wenn dabei
von âReizâ und von âTreibenâ die Rede ist, erhĂ€lt die vorderhand recht abs-
trakt wirkende romankonstitutive Thematik der âEigenschaftslosigkeitâ end-
gĂŒltig eine unĂŒbersehbare Schlagseite ins konkret Sexuelle :
169 Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 191.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208