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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 833
25) ĂŒberhaupt seine erzĂ€hllogische Bedeutung verleiht, erfolgt erst an dessen
Ende in einem eigenen, lapidar nachgeschobenen und so beilÀufig formulier-
ten wie ironisch verschlungenen knappen Absatz : âZwei Wochen spĂ€ter war
Bonadea schon seit vierzehn Tagen seine Geliebte.â (MoE 30)
Wichtig ist in diesem Zusammenhang mehrerlei : ZunĂ€chst die âeigenmĂ€ch-
tigeâ Initiative Bonadeas, die Ulrich hinsichtlich der daraus entstehenden âun-
rechtenâ Beziehung ethisch ein wenig entlastet und erst in der endgĂŒltigen
Textgestalt zu finden ist (vgl. MoE 2021 f.). Wie bereits die KapitelĂŒberschrift
andeutet, kommt der Mann ohne Eigenschaften somit zu seiner neuen Gelieb-
ten wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind, wobei die mÀnnliche SchwÀche
des geschlagenen Helden offenbar ihren Teil zu dessen AttraktivitĂ€t fĂŒr Bona-
dea beitrĂ€gt. Von Ulrich aus betrachtet, spielt der âmoderneâ Zufall anstelle des
traditionellen Schicksals dabei den entscheidenden Part â ganz im Sinne des
von ihm zur ErklĂ€rung des menschlichen Lebens beanspruchten âPrinzip[s]
des unzureichenden Grundesâ (MoE 133 f.). Analog zu ĂŒberkommenen epi-
schen Konstruktionsprinzipien schicksalhafter Verkettung â denen Wilhelm
Meister als Figur, nicht aber sein ErzĂ€hler ĂŒber weite Strecken der ErzĂ€hlung
noch anhĂ€ngt â gilt auch hier, dass die Selektion der Partnerin keiner freien
und bewussten Wahl entspringt ; genauso wenig obliegt sie aber einer intenti-
onal planenden intradiegetischen Instanz wie etwa der aus dem Hintergrund
agierenden Turmgesellschaft. Im Mann ohne Eigenschaften lÀuft die narrative
Anlage der âPartnerwahlâ durch den Romanhelden, die gar keine ist, vielmehr
darauf hinaus, dass das passive âZuziehenâ der Geliebten auch nicht auf eine
bestimmte intrinsische âEigenschaftâ Ulrichs zurĂŒckgefĂŒhrt werden kann. Es ist
hingegen gerade die âunmĂ€nnlicheâ SchwĂ€che Ulrichs, welche ihn zum Objekt
des weiblichen Begehrens macht, also eine Art der geschlechtsuntypischen âEi-
genschaftslosigkeitâ â eine Konstellation, die ihm selbst verborgen bleibt, weil
er ihre Folge als bloĂen Zufall interpretiert. Die SchwĂ€che des Mannes (gegen-
ĂŒber dessen sonst dominierender Rolle) wird von ihm selbst hinsichtlich ihrer
auf die Frau anziehenden Wirkung nicht durchschaut, weshalb er auch ihren
Effekt als PhÀnomen der Kontingenz (miss)deutet : Durch den unangenehmen
Ausgang der StraĂenschlĂ€gerei seiner âstarkenâ, âmĂ€nnlichenâ Rolle beraubt â
was er wĂ€hrend der gemeinsamen Wagenfahrt mit Bonadea zu ĂŒberspielen
versucht â, wird er nun zum Objekt der Begierde einer Frau, der die situative
Rollenumkehrung entgegenkommt, weil sie nur in dieser besonderen Situation
ihre Doppelmoral vorĂŒbergehend aufzuheben vermag : Ihre tatsĂ€chlich höchst
moralische Handlungsweise als âRetterinâ Ulrichs ist ja zugleich auf erotische
Wirkung hin ausgerichtet. Diese Wirkungsabsicht befindet sich plötzlich nicht
mehr im Widerspruch zu ihrem nach auĂen gekehrten Moralismus.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208