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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld834
Bonadeas Handlungsweise â strukturell der einer âschönen Seeleâ analog,
indem hier augenblickshaft eine Harmonie zwischen moralischem Handeln
und erotischem Trieb zum Vorschein kommt â verdankt sich aber nur der
einzigartigen Situation, in der die Umkehrung von typisch âweiblicherâ und
typisch âmĂ€nnlicherâ Rolle erfolgt. Sie entspringt also nicht mehr einer habitu-
ellen Charaktereigenschaft, sondern allein einem aus dem Moment geborenen
Zufall. Auch lÀsst sich Bonadea nicht die Initiative zur nÀchsten Begegnung
nehmen, das heiĂt sie spielt den aktiven Teil des von Beginn an ausschlieĂ-
lich sexuell definierten VerhÀltnisses weiter, was in der singulÀren Situation
der ersten Begegnung noch dem Modell der âschönen Seeleâ entsprach, im
Fortgang der Beziehung jedoch nicht mehr gelingen will, weil beide ihren
gesellschaftlich vorgeprÀgten Geschlechterrollen folgen. Man könnte dies
eventuell als Komplement zu der von Musil vorgefĂŒhrten mangelnden Selbst-
objektivierung des radikal degagierten Mannes ohne Eigenschaften lesen : So
wie Ulrich seine intellektuelle Indifferenz und Freiheit nicht als Konsequenz
der charakteristischen sozialen Stellung des bĂŒrgerlichen Intellektuellen zu
begreifen vermag, so auch nicht den Moment der Aufhebung seiner âmĂ€nn-
lichenâ Eigenschaftlichkeit als emanzipatorische Indetermination. Er versteht
sein VerhĂ€ltnis zu Bonadea vielmehr bloĂ als âzufĂ€lligesâ Ereignis, worunter
die ganze Beziehung leidet. Dass menschliche Geschlechtlichkeit zumindest
teilweise einer performativen Inszenierung entspringt, entgeht beiden Figuren,
wiewohl gerade dies den Anfangspunkt ihrer gegenseitigen Anziehung und
erotischen Begegnung ausmacht, was sie aufgrund ihrer Verhaftung in alten
Geschlechtermustern aber nicht durchschauen.
Auch Bonadeas âNymphomanieâ, die sich bei genauerem Hinsehen als mo-
dernistische Kontrafaktur des klassischen Konzepts der âschönen Seeleâ zu
erkennen gibt, ist keineswegs eine intrinsische âEigenschaftâ der Romanfigur.
Nach Schiller, der die âschöne Seeleâ im Unterschied zu Goethe170 auch the-
oretisch zu fassen versucht hat, ist darunter ein Mensch zu verstehen, dessen
natĂŒrliches Verhalten so sehr dem moralischen Gesetz entspricht, dass in ihm
zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit keinerlei Konflikt besteht :
Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche GefĂŒhl aller Empfindungen
des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daĂ es dem Affekt die Lei-
tung des Willens ohne Scheu ĂŒberlassen darf, und nie Gefahr lĂ€uft, mit den Entschei-
170 Goethes âBekenntnisse einer schönen Seeleâ, die das Sechste Buch der Lehrjahre bilden (vgl.
Goethe : Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 360â422), sind auf diegetischer Ebene ĂŒbrigens kein
Werk Natalies, der spÀteren Gattin Wilhelms, sondern Thereses, seiner zeitweiligen Braut.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208