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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 835
dungen desselben in Widerspruch zu stehen. Daher sind bey einer schönen Seele die
einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es.171
Bonadea entspricht auf das Wörtlichste Schillers abschlieĂender Charakteri-
sierung : Nicht ihre âeinzelnen Handlungenâ sind sittlich, sondern ihr âganzer
Charakterâ. Freilich kann dies nur im ironischen Sinn gelten, wenn man die
Fortsetzung der Schillerâschen Worte berĂŒcksichtigt : âDie schöne Seele hat
kein andres Verdienst, als daĂ sie ist. Mit einer Leichtigkeit, als wenn bloĂ
der Instinkt aus ihr handelte, ĂŒbt sie der Menschheit peinlichste Pflichten aus,
und das heldenmĂŒthigste Opfer, das sie dem Naturtriebe abgewinnt, fĂ€llt, wie
eine freiwillige Wirkung eben dieses Triebes, in die Augen.â172 WĂ€hrend der-
jenige, der âWĂŒrdeâ beweisen will, im Konflikt zwischen Neigung und Pflicht
die sinnlichen den sittlichen KrÀften unterordnen und somit einen Teil sei-
ner âmenschlichen Naturâ unterdrĂŒcken muss, ist dem anmutigen Menschen
von der Natur eine Ăbereinstimmung seiner Affekte mit der Vernunft (bzw.
des moralischen Gesetzes) gegeben. Nur eine solche prÀreflexive Harmo-
nie zwischen natĂŒrlichen KrĂ€ften und vernunftgemĂ€Ăen Gesetzen bezeich-
net nach Schiller eine âschöne Seeleâ : âIn einer schönen Seele ist es also, wo
Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmoniren, und Grazie ist
ihr Ausdruck in der Erscheinung.â173 Dieses ausgleichende Vermögen wird
traditionellerweise vor allem Frauen zugeschrieben, die Schiller somit â der
zeitgenössischen symbolischen Geschlechterordnung entsprechend â als zwar
moralisch unselbstÀndige und von der Subjektwerdung ausgeschlossene, doch
idealiter âunverdorbeneâ Naturwesen174 konzipiert :
Man wird, im Ganzen genommen, die Anmuth mehr bey dem weiblichen Geschlecht
[âŠ] finden, wovon die Ursache nicht weit zu suchen ist. Zur Anmuth muĂ sowohl
der körperliche Bau, als der Charakter beytragen ; jener durch seine Biegsamkeit, Ein-
drĂŒcke anzunehmen und ins Spiel gesetzt zu werden, dieser durch die sittliche Har-
monie der GefĂŒhle. In beydem war die Natur dem Weibe gĂŒnstiger als dem Mann.175
Die Frau wird in diesem Konzept insgesamt auf eine rein instinktive Verhal-
tensweise reduziert und dergestalt ihrer allein den MĂ€nnern zugeschriebenen
171 Schiller : Ueber Anmuth und WĂŒrde, S. 287.
172 Ebd.
173 Ebd., S. 288.
174 Vgl. Lee : Weiblichkeitskonzeptionen und Frauengestalten, bes. S. 104 f.
175 Schiller : Ueber Anmuth und WĂŒrde, S. 288.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208