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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 837
und herrschender hervortrittâ180. An der lĂ€cherlich anmutenden Tatsache,
dass Bonadea ihre höchst moralischen Auslassungen durch ihre sinnlichen Be-
dĂŒrfnisse sowie ihr entsprechendes praktisches Handeln LĂŒgen straft und auf-
grund ihres daraus sowie aus fehlender Reflexion resultierenden Doppellebens
von einem stÀndigen schlechten Gewissen geplagt wird, zeigt sich indirekt,
âwelche Unordnungen, in der natĂŒrlichen Grazie des Menschen, das BewuĂt-
sein anrichtetâ181. In diesem diskursiven Zusammenhang, der selbst âAnmutâ
nicht mehr auch in der seelischen, sondern bloà noch in der körperlichen
âBildungâ des Menschen sucht, genauer : âin dem Bau des menschlichen
Körpersâ182, wird allerdings deutlich, dass Musils romaneske Figurenkonzep-
tion die Reduktion Bonadeas auf ein reines Instinktwesen zunÀchst mitvoll-
zieht. Bei genauerer Betrachtung bewirkt die erzÀhlerische Anlage freilich
eine Objektivierung der nur scheinbar geschlechtsspezifischen Konstellation :
Indem nĂ€mlich Bonadeas â so wie schon Leonas â Dummheit in moralischen
Belangen ihren ĂŒberreflektierten Liebhaber Ulrich auf eigentĂŒmliche Weise
anzieht, wird nicht allein die scheinbar âweiblicheâ Begriffslosigkeit, sondern
komplementĂ€r dazu auch Ulrichs zeittypische âmĂ€nnlicheâ Erwartungshaltung
vor Augen gefĂŒhrt.
Um die im Roman vorgefĂŒhrten unhaltbaren Geschlechterstereotypen auf
mÀnnlicher Seite anhand einer schon zeitgenössisch virulenten und kontextu-
ell naheliegenden Semantik kritisch zu durchleuchten, eignet sich ein Blick in
Musils Vortrag Ăber die Dummheit (1937), der dazu einschlĂ€gig ausfĂŒhrt :
[A]uch die Dummheit [âŠ] vermag zu reizen [âŠ]. [S]ie erregt gewöhnlich Unge-
duld, sie erregt in ungewöhnlichen FÀllen aber auch Grausamkeit ; und die Abscheu
einflöĂenden Ausschreitungen dieser krankhaften Grausamkeit, die landlĂ€ufig als
Sadismus bezeichnet werden, zeigen oft genug dumme Menschen in der Rolle des
Opfers. Offenbar rĂŒhrt dies davon her, daĂ sie den grausamen [sic] leichter als andere
zur Beute fallen ; aber es scheint auch damit zusammenzuhÀngen, daà ihre nach allen
Seiten fĂŒhlbare Widerstandslosigkeit die Einbildung wild macht wie der Blutgeruch
die Jagdlust und sie in eine Ăde verlockt, wo die Grausamkeit beinahe bloĂ darum âzu
weitâ geht, weil sie an nichts mehr eine Grenze findet. Das ist ein Zug von Leiden am
Leidenbringer selbst, eine SchwÀche, die in seine Roheit eingebettet ist ; und obwohl
180 Kleist : Ăber das Marionettentheater, S. 345 ; vgl. den Hinweis darauf in Pekar : Die Sprache der
Liebe, S. 190, Anm. 3.
181 Kleist : Ăber das Marionettentheater, S. 343.
182 Ebd., S. 342 f. Ausschlaggebend dafĂŒr sind âEbenmaĂ, Beweglichkeit, Leichtigkeitâ und âeine
naturgemĂ€Ăe Anordnung der Schwerpunkteâ sowie Abwesenheit jeder Art von âZierereiâ
(S. 341).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208