Seite - 842 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 842 -
Text der Seite - 842 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld842
gesprochen wird, geh ich zu Hause aus dem Zimmer ; das langweilt mich zu Tod.â
(MoE 262 f.)
Die Kontrastwirkung erscheint dadurch zusÀtzlich gesteigert, dass Ulrich sich
in seiner Argumentation â wie auch in anderen ZusammenhĂ€ngen â Ă€uĂerst
provokanter Beispiele und Gleichnisse bedient und gedanklich möglichst un-
konventionelle Wege beschreitet, wÀhrend Bonadea zunehmend handgreif-
lich wird :
âNun gut,â lenkte Ulrich ein âich habe sagen wollen, wie die Technik aus Kadavern, Un-
rat, Bruch und Giften lĂ€ngst schon nĂŒtzliche Dinge bereitet, könnte dies fast auch schon
der psychologischen Technik gelingen. Aber die Welt lĂ€Ăt sich mit der Lösung dieser
Fragen unmĂ€Ăig viel Zeit. Der Staat gibt Geld fĂŒr jede Dummheit her, fĂŒr die Lösung
der wichtigsten moralischen Fragen hat er aber nicht einen Kreuzer ĂŒbrig. Das liegt in
seiner Natur, denn der Staat ist das dĂŒmmste und boshafteste Menschenwesen, das es
gibt.â / Er sagte es mit Ăberzeugung ; aber Bonadea suchte ihn zum Kern der Sache zu-
rĂŒckzubringen. âLiebster,â sagte sie schmachtend âes ist doch gerade das Beste fĂŒr Moos-
brugger, daĂ er unverantwortlich ist ! ?â / âEs wĂ€re wahrscheinlich wichtiger, etliche Ver-
antwortliche umzubringen, als einen Unverantwortlichen vor dem Umgebrachtwerden
zu schĂŒtzen !â wehrte Ulrich ab. / Er ging jetzt nahe vor ihr auf und ab. Bonadea fand ihn
revolutionĂ€r und zĂŒndend ; es gelang ihr, seine Hand einzufangen, und sie legte sie sich
auf den Busen. / âGut,â sagte er âich werde dir jetzt die gefĂŒhlsmĂ€Ăigen Fragen erklĂ€ren.â
/ Bonadea entfaltete seine Finger und breitete seine Hand auf ihrer Brust aus. Der be-
gleitende Blick wĂŒrde ein steinernes Herz gerĂŒhrt haben ; Ulrich glaubte in den nĂ€chsten
Augenblicken zwei Herzen in der Brust zu fĂŒhlen, wie in einem Uhrmacherladen die
UhrschlÀge durcheinanderwimmeln. Mit dem Aufgebot aller Willenskraft brachte er die
Brust in Ordnung und sagte sanft : âNein, Bonadea !â (MoE 263 f.)
Als die mit solchem Widerstand konfrontierte, verzweifelt Begehrende gegen
Ende des Kapitels auch noch die âkörperliche Illusionâ eines Flohs hat, der
âdie gleichen Gegenden wie ein Liebhaberâ bevorzugt â âder Strumpf wurde
bis zum Schuh untersucht, die Bluse muĂte an der Brust geöffnet werdenâ â,
lĂ€chelt der vom Schwadronieren mittlerweile etwas mĂŒrbe Ulrich âunerwartet
freundlichâ, worauf Bonadea âwie ein kleines MĂ€dchen, das sich schlecht auf-
gefĂŒhrt hat, zu weinenâ anfĂ€ngt (MoE 266). An diesem entscheidenden Punkt,
der die situative Sinnlosigkeit der unaufhörlichen Reflexion Ulrichs genauso
offenlegt wie die situative Haltlosigkeit von Bonadeas unbefriedigtem körper-
lichen Begehren, wird beiden die HinfĂ€lligkeit ihrer seltsam ungegrĂŒndeten
Liebschaft schlaglichtartig bewusst.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208