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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 843
Angesichts dieser momentanen Einsicht ĂŒberrascht es nicht, dass Bona-
dea nach weiteren vergeblichen Versuchen, sich Ulrichs wieder zu bemÀch-
tigen, und am Ende eines ungewöhnlich offenen und aufrichtigen GesprÀchs
zwischen den beiden im Schlafzimmer Diotimas â einem damals symbolisch
höchst aufgeladenen Ort188 â seinem Wunsch, allein gelassen zu werden, ein-
mal âkeinen Widerstandâ entgegensetzt :
Sie war nicht mehr eifersĂŒchtig. Sie fĂŒhlte, daĂ sie eine Geschichte erlebe. Sie hĂ€tte
ihn in ihre Arme hĂŒllen mögen ; ihr ahnte, man mĂŒsse ihn auf die Erde hinabziehn ;
sie hĂ€tte am liebsten ein schĂŒtzendes Kreuz auf seiner Stirn gemacht, wie sie es bei
ihren Kindern tat. Und das kam ihr so schön vor, daà es ihr nicht einfiel, darin ein
Ende zu sehn. Sie setzte den Hut auf und kĂŒĂte ihn, und dann kĂŒĂte sie ihn noch ein-
mal durch den Schleier, dessen FĂ€den davon heiĂ wie glĂŒhende GitterstĂ€be wurden.
(MoE 582)
In diesem wĂŒrdigen Abgang, der einem verstĂ€ndnis- und verantwortungsvol-
len Verzicht auf den körperlichen Besitz des begehrten Mannes gleichkommt
und einem unkörperlichen, aber umso innigeren âVereinigungsaugenblickâ189
zwischen den beiden folgt, scheint eine persönliche Reife auf, zu der Bonadea
vorher gar nicht fÀhig schien. Sie entspricht in ihrer Tragweite durchaus Ul-
richs bemerkenswertem âGefĂŒhl, in dem Gassengewirr, durch das ihn seine
Gedanken und Stimmungen so oft gefĂŒhrt hatten, jetzt auf dem Hauptplatz
zu stehen, von dem alles auslĂ€uftâ (MoE 582). WĂ€hrend sich bei ihm allmĂ€h-
lich die âunmĂ€nnlicheâ Disposition herausbildet, die seiner spĂ€teren âselbstlo-
senâ Liebe zu Agathe zugrunde liegt, erweist auch Bonadea sich durch ih-
ren Verzicht im Gefolge des ersten richtigen Austauschs mit ihm weniger als
âschöne Seeleâ im Sinne herkömmlicher Weiblichkeitsvorstellungen denn als
sozial durchaus handlungsmÀchtiges Individuum. An dieser Konstellation Àn-
dert sich weder durch Bonadeas nicht ganz selbstlose BemĂŒhungen um Di-
otima (MoE 819 f.) noch durch ihren und Ulrichs etwas peinlichen âRĂŒck-
188 Vgl. Corbin : IntimitĂ€t und VergnĂŒgungen im Wandel, S. 557 : âKult der JungfrĂ€ulichkeit, roman-
tische VerklĂ€rung der Frau zum Engel und Ăberbewertung der weiblichen Schamhaftigkeit
lieĂen dem frommen BĂŒrger das eheliche Schlafzimmer samt dem Bett als ein Sakrament er-
scheinen, als einen Altar, auf welchem das heilige Gebot der Fortpflanzung vollstreckt wurde.â
189 So Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 194 f. âIn Diotimas Schlafzimmer ist Bonadea wie ver-
wandelt. Sie ist nicht mehr die âvon ihrem Körper beherrschte Frauâ [âŠ]. Am Fenster stehend,
hinausblickend, schweigend â die âklassischeâ Haltung der Musilschen Figuren â erleben Ul-
rich und Bonadea einen Vereinigungsaugenblick. [âŠ] Der traurige ZĂ€rtlichkeitsaugenblick am
Fenster ist Höhe- und vorlĂ€ufiger Endpunkt seiner Beziehung zu Bonadea.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208