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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 845
er auch jetzt wieder. Es war eine scheinbar ganz natĂŒrliche, aber zwecklose Vertrau-
lichkeit, und sie fĂŒrchteten sich beide davor. (MoE 310)
Eine tatsÀchliche Liebe will sich nicht einstellen, was wohl unter anderem
daraus resultiert, dass es sich beim BildungsbĂŒrgersohn und der Tochter des
Bankiers â also eines ausgesprochenen BesitzbĂŒrgers â um Figuren han-
delt, die mit verschiedenem Habitus sowie einer unterschiedlichen Kapital-
mischung ausgestattet sind.195 Dementsprechend fallen âin der Interaktion
zwischen ihnen [âŠ] immer wieder Ambivalenzsignale aufâ, und bei Gerda
âwerden ihre psychischen Ambivalenzen gegenĂŒber Ulrich auch physisch
manifestâ.196 Der ErzĂ€hler bestĂ€tigt ausdrĂŒcklich : âDie Sache war die, daĂ sie
einander nicht liebten.â (MoE 310) Genauer wird die wenig emphatische Na-
tur ihrer âLiebeâ197 folgendermaĂen erlĂ€utert :
Sie hatten frĂŒher oft gemeinsam Tennis gespielt oder sich in Gesellschaft getroffen,
waren miteinander gegangen, hatten Anteil aneinander genommen und auf diese
Weise unmerklich die Grenze ĂŒberschritten, die einen vertrauten Menschen, dem
man sich zeigt, wie man in seiner GefĂŒhlsunordnung ist, von allen unterscheidet, vor
denen man sich fein macht. Sie waren unversehens so vertraut geworden wie zwei,
die sich schon lange lieben, ja fast schon nicht mehr lieben, aber hatten sich dabei die
Liebe erlassen. Sie zankten einander aus, so daà man glauben konnte, sie möchten
einander nicht, aber das war zugleich Hindernis und Verbindung. Sie wuĂten, daĂ
nur ein kleiner Funke fehlte, um daraus ein Feuer anzurichten. WĂ€re der Altersunter-
schied zwischen ihnen geringer oder Gerda eine verheiratete Frau gewesen, so wÀre
wahrscheinlich aus der Gelegenheit [âŠ] wenigstens nachtrĂ€glich eine Leidenschaft
geworden [âŠ]. Aber gerade weil sie das wuĂten, taten sie es nicht. Gerda war MĂ€d-
chen geblieben und Ă€rgerte sich leidenschaftlich darĂŒber. (MoE 310)
Ulrich ist sich dieses Sachverhalts, der hinsichtlich Gerdas auf eine zeittypi-
sche Problemlage verweist, wohl bewusst, wie seine besorgte Frage schon
nach der ersten Begegnung zeigt : â[S]agen Sie mir, Gerda, wohin wird uns das
fĂŒhren ?â (MoE 310) Trotz dieses Wissens kommt es angesichts der unausge-
sprochenen erotischen Spannung immer wieder zu körperlichen AnnÀherun-
195 Zu den aus dem âSystem der Unterschiedeâ verschiedener sozialer Klassenzugehörigkeit resul-
tierenden ethischen, stilistischen und emotionalen AffinitÀten und Aversionen vgl. Bourdieu :
Die feinen Unterschiede, S. 298â311, Zit. S. 299.
196 Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 232.
197 An spĂ€terer Stelle heiĂt es freilich â wohl nur im allgemeinen Sinn : â[S]ie glaubte ihm, weil sie
ihn liebteâ (MoE 487).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208