Seite - 850 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 850 -
Text der Seite - 850 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld850
rich generell einen âphallisch-sadistische[n] NarziĂmusâ211 ; Musils Protago-
nist ĂŒbe dementsprechend auch in âKontermine und VerfĂŒhrungâ sadistisch
Rache an den zum Objekt erniedrigten Frauen, was als unbewusste Kompen-
sation fĂŒr seinen eigenen grundlegenden Objektverlust zu werten sei.212 Daran
anschlieĂend meint Werner Graf, Ulrichs frauenfeindliches Verhalten, âdas
von seiner sachlichen Haltung rationalisierend gestĂŒtzt wirdâ, dĂŒrfe ânicht
mehr als unangenehme Randerscheinungâ seines Charakters einfach ĂŒbergan-
gen, sondern mĂŒsse âals Manifestation seines Scheiternsâ interpretiert wer-
den : âSeine eigenschaftslose Exaktheit, diese Konsequenz fĂŒhrt der Roman
unerbittlich vor, provoziert und verstÀrkt seine Neigung zur GewalttÀtigkeit,
bis sie sich offen gegen ihn selbst kehrt.â213 FĂŒr Stefan Howald handelt es
sich bei der geschilderten Bettszene sogar um den âHöhepunkt von Ulrichs
gewalttĂ€tiger Frauenverachtungâ214. Auch dem ebenfalls psychoanalytisch ar-
gumentierenden Hans-Rudolf SchÀrer gilt die Gerda-Episode als beispielhaft
fĂŒr âUlrichs AggressivitĂ€tâ und âbrutale Verachtungâ gegenĂŒber den Angehö-
rigen des weiblichen Geschlechts, wie er im Kapitel âAggressivitĂ€t und Ge-
fĂŒhlskĂ€lteâ seiner Monografie zum Mann ohne Eigenschaften bemerkt.215 Die
skeptischen Interpreten wie SchÀrer oder auch Laermann eint die implizite
Annahme, dass âUlrichs sexistisches Verhaltenâ216 die Billigung seines ErzĂ€h-
lers bzw. Autors besitze und aus literaturwissenschaftlichem Abstand deshalb
umso kritischer zu beurteilen sei.217 Besonders provokant wirkt hier offenbar
Musils kĂŒhle, latent menschenverachtende Darstellungsweise, die sich in kei-
ner Weise von der erzÀhlten Handlung zu distanzieren scheint.
Nun kann man mit einigem Recht dagegen anfĂŒhren, dass es spĂ€testens
seit Goethes Werther nicht mehr zu den vordringlichen Aufgaben eines Er-
zĂ€hlers zĂ€hlt, die ethisch fragwĂŒrdigen oder gar verwerflichen Handlungen
seiner Figuren moralisch zu beurteilen, ja dass es vielmehr als Errungenschaft
moderner Literatur gilt, dieses kunstfremde Ansinnen an wie immer sittlich
gefestigte oder psychoanalytisch gelÀuterte Leser bzw. Leserinnen delegieren
zu können. Die Frage nach der Haltung des ErzÀhlers zum ErzÀhlten stellt
211 Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 33.
212 Vgl. ebd., S. 137 f. sowie bereits S. 34 f.
213 Graf : Erfahrungskonstruktion, S. 99.
214 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 321 ; vgl. ebd., S. 322 f., Anm. 328.
Howald beruft sich in seiner Diagnose u. a. auf Corino : Ădipus oder Orest, S. 134 ; Heyd :
Musil-LektĂŒre, S. 173 u. 206.
215 SchĂ€rer : NarziĂmus und Utopismus, S. 40 ; vgl. ebd., S. 42.
216 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 323, Anm. 328.
217 Vgl. auch KĂŒmmel : Das MoE-Programm, S. 430â436.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208