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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Seite - 855 -
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„Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ 855 Ulrich indes ist es nicht um eine Krönungsfeier zu tun, sondern eher um ei- nen gewaltsamen Showdown. Ohne lange zu fackeln, lĂ€sst er mehr oder we- niger widerwillig den zentralen Akt der VerfĂŒhrung beginnen : „Er beugte sich hinab und bedeckte es [Gerdas Gesicht, N. C. W.] mit den rĂŒcksichts- losen KĂŒssen, die das Fleisch in Bewegung setzen. Gerda stand willenlos auf und ließ sich fĂŒhren. Es waren ungefĂ€hr zehn Schritte, die sie bis in Ulrichs Schlafzimmer zurĂŒckzulegen hatten“ (MoE 620 f.).223 Auf dem Weg in Ul- richs Bett schwĂ€chelt sie zwar, ist aber durchaus noch in der Lage, ratio- nale Gedanken zu fassen ; sie kann diesen Zustand jedoch nicht verstetigen und gibt sich in der Folge regelrecht auf : „Es fiel ihr ein, daß sie mit mehr Klugheit und Berechnung vielleicht als Frau hĂ€tte hier einziehen können ; es wĂŒrde sie sehr glĂŒcklich gemacht haben, aber sie suchte nach Worten, um zu sagen, daß sie keinen Vorteil wolle, sondern nur sich schenken ; diese Worte fand sie nicht, sagte zu sich : ‚Es muß sein !‘ und öffnete den Kragen ihres Klei- des.“ (MoE 621)224 Von der weiteren Vorbereitung des Geschlechtsakts wird in provozierend sachlicher Manier berichtet225, wobei die Darstellung besonderes Gewicht auf die beiderseitig empfundene hochgradige Peinlichkeit der Handlung legt und zugleich von einem verstörenden Machismus geprĂ€gt ist : 223 An dieser Stelle von einem ‚Zaudern‘ der jungen Frau zu sprechen, wie es Howald : Ästheti- zismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 321, in kritischer Absicht tut, scheint mir angesichts des Wortlauts der vorhergehenden SĂ€tze – insbesondere ĂŒber den „zarten Widerstand“, den sie Ulrichs Arm entgegensetzt (MoE 620) – durchaus vertretbar ; kaum nachzuvollziehen ist aber Howalds harsche Qualifizierung der folgenden Handlung als „Vergewaltigung“ (ebd.). Solcher- art wird nĂ€mlich die (selbst nach damaligen Kriterien) erwachsene Gerda auf recht paternalisti- sche Weise jeder Verantwortung am Geschehen enthoben. Wenig spĂ€ter ist abweichend davon von „versuchte[r] Vergewaltigung“ (S. 322, Anm. 328) die Rede, was mir trotz aller empathielo- sen Konsequenz von Ulrichs brutalem Vorgehen auch nicht angemessener erscheint. 224 Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 235, deutet diese Stelle als „Gerdas Versuch einer psychischen Selbstvergewaltigung“. Gödicke : Donjuanismus im Mann ohne Eigenschaften, S. 30, sieht in Gerdas defĂ€tistischen Worten eine Anspielung auf „Beethovens berĂŒhmtes Wort im Manuskript des Streichquartetts op. 135“, das „den aufschlußreichen [?] Titel Der schwer gefaßte Entschluß“ trĂ€gt. Da es sich bei Gerdas Handeln wohl kaum um das Ergebnis eines ‚schwer gefassten Entschlusses‘ handelt, sondern eher eines drohenden Kontrollverlusts, scheint mir der Anklang an Beethovens abschließendes Wort „Es muß sein !“ eher zufĂ€llig. 225 Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 231, suggeriert sogar, Musils „geradezu klinisch nĂŒchterne[ ] Diagnostik“ entspringe hier „einer durch die Neue Sachlichkeit formierten anti- romantischen Tendenz“. Indem sie sich zur Veranschaulichung auf die frĂŒhen EntwĂŒrfe Musils zum „Monsieur le vivisecteur“ bezieht, unterlĂ€uft sie ihre Hypothese allerdings gleich wieder, handelt es sich dabei doch um Notizen aus der Zeit der Jahrhundertwende.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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Titel
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Untertitel
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Autor
Norbert Christian Wolf
Verlag
Böhlau Verlag
Ort
Wien
Datum
2011
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78740-2
Abmessungen
15.5 x 23.0 cm
Seiten
1224
Schlagwörter
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
Kategorie
Geisteswissenschaften

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorbemerkung 9
  2. Einleitung 11
    1. 1. Vom Scheitern eines Großkritikers : Aporien der Literaturkritik 11
    2. 2. Die MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung 20
  3. TEIL I : GRUNDLEGUNG
    1. 1. Grundlagen der Untersuchung 43
      1. 1.1 Vorstellung der Methode : Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte 43
      2. 1.2 Methodologische EinwÀnde : Kritik der Sozioanalyse 58
    2. 2. Grundlagen der Poetik Musils 64
      1. 2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften : ‚Gestaltlosigkeit‘ als ‚negative‘ Anthropologie 64
      2. 2.2 ‚Gestaltlosigkeit‘ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion 80
    3. Gesellschaft im Roman 82
    4. Roman als Konstruktion 101
    5. Da capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyse 124
      1. 2.3 Medienkonkurrenz : Essayistisches vs. filmisches ErzÀhlen (Musil kontra Balåzs) 129
    6. 3. Grundbegriffe des Romankonzepts 165
      1. 3.1 Eigenschaftslosigkeit 165
      2. 3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus 199
  4. TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
    1. 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
      1. 1.1 SelbstreferenzialitĂ€t und Außenreferenz : Das Eingangskapitel 261
      2. 1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell 282
      3. 1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften 300
    2. 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
      1. 2.1 MĂ€nner 334
    3. Erben und Enterbte 344
    4. Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
    5. Mann mit Eigenschaften 378
    6. Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
    7. Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
    8. Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
    9. Aufsteiger und Gebremste 482
    10. Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
    11. Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
    12. Terroristen und Propheten 548
    13. Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
    14. eingast, Faschist und Schwerenöter 584
    15. Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
    16. Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
      1. 2.2 Frauen 635
    17. Gefallene Geliebte 643
    18. Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
    19. Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
    20. Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
    21. Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
    22. Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
    23. Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
    24. Angepasste und Dissidentinnen 708
    25. Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
    26. Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
    27. 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
      1. 3.1 Gemischtgeschlechtliche Konstellationen : MĂ€nner und Frauen im 20. Jahrhundert 771
    28. Ehen in der Krise 781
    29. Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die „TrĂ€ger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
    30. Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
    31. Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
    32. Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
    33. Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
    34. Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
    35. Liebesversuche jenseits der Ehe 885
    36. Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
    37. Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
    38. Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
    39. Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
    40. 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
    41. Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
    42. Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
    43. Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
    44. Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
    45. Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
    46. BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
  5. BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
  6. TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
    1. 1. Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1099
      1. 1.1 ‚Negative‘ Anthropologie als literaturpolitischer Einsatz 1101
      2. 1.2 Poetik des Essayismus – Musils vielfacher Bruch 1130
    2. 2. Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse 1152
  7. Literaturverzeichnis 1169
  8. Musil-Texte 1169
  9. Andere Quellen 1169
  10. Nachschlagewerke 1176
  11. Allgemeine Forschungsliteratur 1176
  12. SekundÀrliteratur zu Musil 1193
  13. Register 1208
    1. 1. Personen 1208
    2. 2. Literarische Figuren 1214
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