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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld856
Ulrich hatte sie losgelassen ; er brachte es nicht ĂŒber sich, den zarten Beistand der
Liebe beim Entkleiden zu leisten, stand abseits und warf seine eigenen Kleider ab.
Gerda gewahrte den schlank aufgerichteten mÀchtigen Körper des Mannes in seinem
Gleichgewicht von GewalttĂ€tigkeit und Schönheit. Erschreckt wurde sie gewahr, daĂ
sich ihr eigener Körper, obgleich sie noch in Unterkleidern dastand, mit einer GÀn-
sehaut ĂŒberzog. Wieder suchte sie nach Worten, die ihr helfen sollten ; sie stand allzu
jÀmmerlich da ! (MoE 621)
Durch die GegenĂŒberstellung der phallisch konnotierten âGewalttĂ€tigkeit und
Schönheitâ Ulrichs und der nicht nur hier suggerierten relativen Weichheit
und HĂ€sslichkeit Gerdas ergibt sich ein eklatantes Ungleichgewicht in der Be-
schreibung226, das mit einer eindeutig aus mÀnnlicher Perspektive erfolgen-
den geschlechtlichen Stereotypisierung einhergeht und wohl nicht nur aus
heutiger Sicht Ă€uĂerst unangenehm wirkt. Es ist denn auch genau die darauf
folgende Passage, die dem Lektor des Walter-Verlags so âpeinlichâ227 erschien :
Bei diesem Stand der Dinge trat Ulrich, der ihre Qual und die Gefahr bemerkte, daĂ al-
les zunichte werden könnte, was mit so viel Ăberwindung bis hieher gefördert worden
war, auf sie zu und löste ihr Achselband.[228] [âŠ] Er glaubte zu erraten, daĂ Gerda sich
entschlossen habe, ein Geschehnis so rasch wie möglich zu ĂŒberstehen, das nicht mehr
zu vermeiden war, und noch nie war es ihm so klar geworden wie in der Sekunde, wo
er ihr folgte, wie sehr das leidenschaftliche Eindringen in einen fremden Körper eine
Fortsetzung der kindischen Neigung fĂŒr heimliche und verbrecherische Verstecke ist.
Seine HĂ€nde stieĂen auf die noch immer von Angst gerauhte Haut des MĂ€dchens, und
er selbst fĂŒhlte sich erschreckt statt hingezogen. Er mochte diesen Körper nicht, der
halb schon schlaff und halb noch unreif war ; was er tat, kam ihm völlig sinnlos vor, und
er wĂŒrde am liebsten die Flucht aus dem Bett ergriffen haben, die zu verhindern er alles
an Gedanken aufbieten muĂte, was sich dazu eignete. (MoE 621 f.)
Ulrichs Bewusstsein des eigenen kindischen Sadismus bezeugt eine refle-
xive Distanz zu dem von ihm selbst vorangetriebenen Geschehen, was seine
Handlungsweise besonders empörend erscheinen lÀsst. TatsÀchlich kann hier
weniger von einer affektiven Ăberhitzung die Rede sein als in erster Linie von
226 Von einer âwechselseitige[n] Violenzâ (so Neymeyr ebd., S. 233) in der Interaktion zwischen
Gerda und Ulrich kann zwar allgemein, aber wohl keineswegs im Kapitel âKontermine und
VerfĂŒhrungâ die Rede sein, denn die âGewalttĂ€tigkeitâ geht hier nur von Ulrich aus.
227 Just : Die Bob Hansen-Story, S. 32.
228 Den angeblich altösterreichischen Begriff âAchselbandâ hat die Pardon-Redaktion ĂŒbrigens in
neudeutsch âBĂŒstenhalterâ aktualisiert ; vgl. ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208