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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld868
dere optische Medien inspiriert haben. Dieser Sachverhalt wird an mehreren
Stellen manifest. So leuchtet er die Szenerie mit Gerda gleichsam cineastisch
aus, was sich etwa an den charakteristischen LichtverhÀltnissen bei der ers-
ten Umarmung zeigt : âVom Winternachmittag drĂ€ngte bei den Fenstern mat-
ter Schein in das dunkelnde Zimmer, und in einem dieser hellen Ausschnitte
stand er und hielt das MĂ€dchen in seinem Armâ (MoE 618). Dieses Bild
scheint nicht nur eigens fĂŒr einen Betrachter arrangiert zu sein, sondern erin-
nert stark an entsprechende Filmsequenzen. Unmittelbar im Anschluss daran
zoomt der Kamerablick des ErzÀhlers auf das Gesicht der jungen Frau : Ihr
âKopf hob sich gelb und scharf von dem weichen Kissen des Lichts ab, und
die Farbe des Gesichts war ölig, so daà Gerda in diesem Augenblick beinahe
wie eine Tote aussahâ (MoE 618). Abgesehen von den wiederum verstören-
den VergleichsgröĂen (âöligâ, âwie eine Toteâ) und vom Farbadjektiv (âgelbâ),
die im damaligen Schwarz-WeiĂ-Film noch keine Entsprechung hatten, han-
delt es sich hierbei darstellungstechnisch um einen Schnitt, der die Totale von
der GroĂaufnahme trennt. Musils kinematografischer GewĂ€hrsmann BĂ©la Ba-
lĂĄzs hat gerade Letztere zum Proprium des damals noch jungen Mediums er-
klĂ€rt : âDie GroĂaufnahmen sind das eigenste Gebiet des Films. In den GroĂ-
aufnahmen eröffnet sich das Neuland dieser neuen Kunst.â268 Es gehe dem
Film nĂ€mlich um ââdas kleine Lebenâ [âŠ] der Details und Einzelmomenteâ.269
Die spezifisch filmische Aufmerksamkeitszurichtung hat entscheidende Fol-
gen fĂŒr die Wahrnehmung des Rezipienten, denn âdie Lupe des Kinemato-
graphsâ bringe ihm âdie einzelnen Zellen des Lebensgewebes naheâ270 â auch
und gerade in ihrer stÀndigen VerÀnderung.
Ăbereinstimmend damit berichtet Musils ErzĂ€hler, dass Gerdas âHautâ
angesichts der folgenlosen Umarmungen und âschattenhaften BerĂŒhrungenâ
durch den jugendlichen Verehrer Hans Sepp allmĂ€hlich âdie Frische verlorâ
(MoE 617). Punktuell veranschaulicht wird dieser lÀngerfristige Prozess be-
reits durch Gerdas kurzen Blick in den Spiegel vor ihrem Aufbruch zu Ul-
268 BalĂĄzs : Der sichtbare Mensch, S. 49. Den kulturhistorischen Kontext dieses Befundes rekonst-
ruiert der instruktive Aufsatz von Anton Kaes : Das bewegte Gesicht, der unter anderem darauf
hinweist, dass âdie GroĂaufnahme im Stummfilm ein mit Affekt aufgeladenes Stilmittelâ ist,
âdas je nach Genre und Film unterschiedliche Wirkungen hervorruftâ (S. 156), so unmittelbar
nach dem Ersten Weltkrieg den âSchockâ als âTeil einer programmatisch antibĂŒrgerlichen Pro-
vokations-Ăsthetikâ oder die âemotionale[ ] Vertiefungâ im Rahmen der âfilmischen Melodra-
men zur Mitte der zwanziger Jahreâ (S. 160 f.). Musil hat sich anscheinend eher von Ersterem
inspirieren lassen.
269 BalĂĄzs : Der sichtbare Mensch, S. 49.
270 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208