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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 873
Das Gegenteil ist bei Ulrich und Gerda der Fall, wie schon eine frĂŒhere Be-
gegnung der beiden zeigt : âUlrich beobachtete den feinen schwarzen Flaum,
der auf Gerdas blonder Haut als Widerspruch hervorbrach ; das vielfÀltig Zu-
sammengesetzte armer Menschen von heute schien mit diesen HĂ€rchen aus
dem Leib zu sprossen.â (MoE 315) Aus Ulrichs Reflexion im Anschluss an die
Wahrnehmung des besagten dinglichen Eigenlebens spricht kein verdeckter
rassistischer Vorbehalt gegen die Tochter aus einer sogenannten âMischeheâ,
denn das widersprÀche Musils antiessenzialistischer Anthropologie der Ge-
staltlosigkeit diametral ; sie bedeutet vielmehr ein radikales Dementi der von
BalĂĄzs behaupteten âgroĂen Symphonieâ des Lebens samt ihrer vorausgesetz-
ten Harmonie der âeinzelnen Lebensstimmen aller Dingeâ â ein Dementi, das
im Einklang mit ebenjener negativen Anthropologie des Schriftstellers erfolgt.
Selbst Balåzs hatte nicht von der Tatsache absehen können, dass filmische
GroĂaufnahmen âeine Art Naturalismusâ bewirken : âDenn es sind scharfe Be-
obachtungen der Einzelheiten.â280 Zwar suggerierte der Filmtheoretiker da-
bei in apologetischer Absicht, dass in solchen genauen âBeobachtungenâ eine
âZĂ€rtlichkeitâ liege, die einen âNaturalismus der Liebeâ erzeugt.281 Dennoch
vermochte er nicht die schiere Existenz eines alternativen âNaturalismus des
Hassesâ zu leugnen, der aus ebenjener âBeobachtungsschĂ€rfeâ hervorgehen
kann.282 Ist dieser âNaturalismus des Hassesâ nun zur Kennzeichnung der viel
gescholtenen GefĂŒhlskĂ€lte Ulrichs und seines ErzĂ€hlers einschlĂ€gig ?
Einer Deutung der Wahrnehmungen und Handlungen Ulrichs als hasser-
fĂŒllt scheint der Umstand entgegenzukommen, dass der Mann ohne Eigen-
schaften zu Beginn der gesamten Szene tatsĂ€chlich wĂŒtend war, weil ihn
Gerda unvermittelt â ja âgewaltsamâ, wie er meint (vgl. MoE 618) â geduzt
hatte. Doch ist diese Wut spĂ€testens nach der Mitteilung Gerdas ĂŒber Arn-
heims geheime Absichten auf die galizischen Ălfelder lĂ€ngst ĂŒberwunden.
Wenn in der Folge ĂŒberhaupt ein solches starkes GefĂŒhl zu konstatieren wĂ€re,
dann wohl allein im Sinn eines durchaus vorhandenen Selbsthasses Ulrichs
wird in einem guten Film nie in der Totalaufnahme gezeigt. Denn in der Totale ist nie zu sehen,
was eigentlich geschieht.â
280 Ebd., S. 51.
281 Vgl. ebd.: âDenn was man wirklich liebt, das kennt man gut und beachtet seine kleinsten Ein-
zelheiten mit zĂ€rtlicher Aufmerksamkeit. [âŠ] Bei Filmen mit vielen guten GroĂaufnahmen hat
man oft den Eindruck, daĂ es nicht Beobachtungen des guten Auges, sondern des guten Her-
zens sind. So strahlen sie eine WĂ€rme aus, eine mittelbare Lyrik, deren besondere kĂŒnstlerische
Bedeutung darin liegt, daĂ sie rĂŒhrend ist, ohne sentimental zu werden. Sie bleibt unpersönlich
und sachlich.â
282 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208