Seite - 877 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 877 -
Text der Seite - 877 -
âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 877
des Lebens zuhause sindâ (MoE 622). Der beschworene Schrecken und die
DĂ€monie erscheinen noch dadurch gesteigert, dass auch in Gerdas hysteri-
scher Attacke âmit einem Male ein menschliches Systemâ sichtbar wird, âdas
nur darauf bedachtâ ist, âsich selbst zu behauptenâ, und das â wie die desil-
lusionierte ErzĂ€hlinstanz in TriĂ«dere bemerkt â trotz aller pseudomystischen
VereinigungswĂŒnsche letztlich âgar nichts fĂŒr andere ĂŒbrighat[ ]â (GW 7, 522).
Als technische Beobachtungsapparatur erzeugt das Fernrohr durch die von
ihm bewirkte zentralperspektivische Anordnung des Sichtfeldes vorderhand
den Eindruck einer ErmÀchtigung des wahrnehmenden Subjekts. Musil hin-
gegen hat offenbar Gegenteiliges im Sinn, indem er die BeschrÀnktheit der
Sprache, des erzĂ€hlerischen Mediums, effektvoll vor Augen fĂŒhrt : Der Kame-
rablick im Roman â die Inszenierung eines Medienwechsels â stellt nĂ€mlich
die SouverÀnitÀt des sprachlich vermittelten ErzÀhlerstandpunkts in Frage ; er
macht deutlich, dass der ErzÀhler keineswegs immer alles im Blickfeld hat.
Die Sicht durch ein Fernrohr lÀuft demnach nicht auf die Zurschaustellung ei-
nes allmÀchtigen klinischen Blicks hinaus, sondern ist im Gegenteil Ausdruck
einer ErschĂŒtterung des Privilegs der Sprache als des vorrangigen Zeichensys-
tems im Zugriff auf das âRealeâ. Dass Musil am Beispiel des Fernrohrs bzw. des
Kamerablicks die vermeintlich souverÀne Beobachterhaltung dergestalt selbst
objektiviert und nicht einfach imitiert, zeigt sich auch darin, dass er auf Gerda
und Ulrich stÀndig wechselnde Fokalisierungen vornimmt, aber allein die
souverÀnere Perspektive Ulrichs als eminent aggressiv erscheinen lÀsst. Die
zahlreichen Fokalisierungswechsel deuten darauf hin, dass es dem ErzÀhler
in seinen Anleihen bei der filmischen Darstellung selbst um eine mehrfache
Perspektivierung zu tun ist, was einmal mehr bestÀtigt, dass die Perspektive
Ulrichs nicht die seine ist.
Die von Koppenfels schon bei Flaubert diagnostizierte Reduktion des
menschlichen Lebens auf ein Aggregat bloĂer Lebensprozesse289 greift bei
Musil freilich auf andere auĂerliterarische GewĂ€hrsleute zurĂŒck als bei seinem
französischen VorgÀnger, nÀmlich zum einen auf eine dezidiert moderne wis-
senschaftsgeschichtliche Linie, die von Mach ĂŒber die mathematische Statistik
und Wahrscheinlichkeitstheorie bis in die psychologische Gestalttheorie und
angewandte Psychotechnik reicht. Zum anderen bedient sich der modernis-
tische Autor impliziter intermedialer Referenzen auf das neue Medium des
Films, um sein avanciertes literarisches Projekt in Abgrenzung von dessen Er-
rungenschaften und medialen Grenzen möglichst scharf zu profilieren.290 FĂŒr
289 Vgl. Koppenfels : Immune ErzÀhler, S. 187.
290 Vgl. dazu das Kap. I.2.3.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208