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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 879
den peinlichen Stempel berĂŒcksichtigt, mit dem der âlibertĂ© Ă©crivainâ295 Bob
Hansen seinen nicht sonderlich versiert wirkenden Begleitbrief Ende 1967 ge-
krönt hat, dann wird man den Verdacht nicht mehr los, das satirische Experi-
ment sei von Beginn an auf eine Desavouierung des modernen Klassikers, ja
der avancierten Literatur ĂŒberhaupt angelegt gewesen. Karl Heinz Bohrer hat
denn auch seinerzeit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die âVerfremdung
und Umfunktionierung der Musilschen Textstelleâ durch eine âdie falsch ge-
leitete Erwartung des Lesers berechnende[ ] Absichtâ inkriminiert.296 Er hatte
wohl nicht unrecht : Musil hÀtte das Kapitel mit Sicherheit nicht in dieser
verstĂŒmmelten Form und vor allem nicht isoliert zur Beurteilung vorgelegt,
denn seine Funktion wird erst durch eine Einbettung in die MakroerzÀhlung
kenntlich : Das schon lÀnger intrikate VerhÀltnis zwischen Ulrich und Gerda
findet gegen Ende des Ersten Buchs im gleichsam gefrorenen Bild der schrei-
enden Frau, das die gescheiterte Vereinigung symbolisiert, einen vorlÀufigen
Abschluss, der seinerseits die Wende zum Zweiten Buch mit seiner geschwis-
terlichen Liebesgeschichte einleitet.
Schon in frĂŒheren Begegnungen der beiden Figuren hat sich eine proble-
ma tische erotische Aufladung abgezeichnet, die zumindest auf Seiten Ulrichs
stets von einer innerlichen Leere und Teilnahmslosigkeit begleitet ist (vgl.
etwa MoE 310 f.) ; so heiĂt es zu einem frĂŒheren Beisammensein mit Gerda,
das unter der bezeichnenden KapitelĂŒberschrift âDie Versuchungâ figuriert :
âGerda spĂŒrte den Druck der NĂ€he des mĂ€chtigeren Manneskörpers, sie
spĂŒrte ihn immer, gegen alle ihre Ăberzeugungen, wenn sie allein waren ; sie
lehnte sich dagegen auf und begann zu zittern.â (MoE 490 f.) Die spĂ€tere Sze-
nerie, die zum hysterischen Anfall fĂŒhrt, findet sich hier bereits prĂ€figuriert.297
Und Ulrich fĂŒhlt sich schon zu diesem Zeitpunkt âim höchsten Grade wider-
wĂ€rtig. Er wollte wirklich alles das nicht. Er fĂŒhlte die Unentschlossenheit
dieser Seele und verachtete sich, weil sie in ihm Grausamkeit erregte.â (MoE
495) Gegen Ende des GesprÀchs lÀdt der offenbar seine rationale Kontrolle
verlierende Held die junge Frau zu sich nach Hause ein, weil man dort freier
sprechen könne. Der ErzÀhler kommentiert diese hintersinnige Einladung, die
dem Kapitel âKontermine und VerfĂŒhrungâ vorausgeht, mit ĂŒberraschend of-
295 Vgl. ebd., S. 31. Die Verhunzung der emphatischen Berufsbezeichnung Ă©crivain libre durch die
Pardon-Redaktion sollte offenbar einer weiteren BloĂstellung der adressierten âSachverstĂ€n-
digenâ dienen. Wenn darauf in den Antwortschreiben nicht eingegangen wurde, besagt das
allerdings wenig ĂŒber die Kompetenz der Antwortenden, die sich nicht notwendig mit jeder
Peinlichkeit auseinandersetzen mĂŒssen.
296 Bohrer : Von Helga und JĂŒrgen, S. 32.
297 Vgl. Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 237, Anm. 1.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208