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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 883
unserer Beziehungen zu Welt, Menschen und eigenem Ichâ kenne : âWir ha-
ben uns [âŠ] durch die SchĂ€rfe unsres Geistes zu dem entwickelt, was wir sind,
Herren einer Erde, auf der wir ursprĂŒnglich ein Nichts zwischen Ungeheurem
waren ; AktivitÀt, Tapferkeit, List, Falschheit, Ruhelosigkeit, Böses, JÀgerhaf-
tigkeit, Kriegslust und dergleichen sind die moralischen Eigenschaften, denen
wir diesen Aufstieg verdanken.â (GW 8, 1143) Einige dieser âkaltenâ Eigen-
schaften prÀgen das Verhalten Ulrichs im Ersten Buch des Romans, und das
nicht von ungefÀhr :
Wir haben sie heute zwar, sobald sie innerhalb unserer Interessengemeinschaften im
ĂberfluĂ auftreten, zu Untugenden herabgesetzt, aber sie beherrschen nicht nur den
Verkehr der InteressenverbÀnde untereinander noch immer (Krieg, Ausbeutung und
dergleichen), sondern â was viel schwerer zu Ă€ndern ist â sie durchdringen auch die
geistige Haltung des Menschen in der Zivilisation bis ins letzte. Das Messen, Rech-
nen, SpĂŒren, das positive, kausale, mechanische Denken, das an Menschen unsrer
Tage so oft beklagt wird, ist der gleiche Ausdruck urverwurzelten MiĂtrauens und
Daseinskampfes wie die beherrschende Rolle des Geldes als Regulator einer Welt, in
der nur die niederen Eigenschaften des Menschen fĂŒr fest und berechenbar gelten,
sozusagen als das einzige solide soziale Baumaterial verwendet werden. (GW 8, 1143)
Der âkalteâ, Ă la baisse spekulierende Ulrich wĂ€re in diesem Sinn also ein Ver-
treter der rationalen und rationellen Moderne. âDiesem Geisteszustandâ â so
Musil â stehe
jedoch ein andrer gegenĂŒber, der historisch nicht minder nachweisbar ist, wenn er
sich auch unsrer Geschichte weniger stark aufgeprÀgt hat ; er ist mit vielen Namen
bezeichnet worden, die alle eine unklare Ăbereinstimmung tragen. Man hat ihn den
Zustand der Liebe genannt, der GĂŒte, der Weltabgekehrtheit, der Kontemplation, des
Schauens, der AnnĂ€herung an Gott, der EntrĂŒckung, der Willenlosigkeit, der Einkehr
und vieler andrer Seiten eines Grunderlebnisses, das in Religion, Mystik und Ethik
aller historischen Völker ebenso ĂŒbereinstimmend wiederkehrt, wie es merkwĂŒrdig
entwicklungslos geblieben ist. (GW 8, 1144)
Die zuletzt angesprochene âmerkwĂŒrdige Entwicklungslosigkeitâ des âanderen
Zustandsâ stellt ein Pensum fĂŒr die erzĂ€hlerische Ausgestaltung der verschie-
denen Liebesversuche im Roman dar.306 An dieser Stelle sei im Bewusstsein
der Gefahr eines vereinheitlichenden Schematismus die (nicht allzu gewagte)
306 Vgl. dazu die Ăberlegungen im folgenden Abschnitt.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208