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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 891
hungen ihre Roheit und HÀrte nehmen), ein Ende [haben] mit der mÀnnlichen Sicht
der zwischengeschlechtlichen Beziehungen, die stets die von JĂ€gern und Kriegern
ist.323
Wie hat man sich diese mĂ€rchenhaft anmutende Aufhebung der âmĂ€nnlichen
Herrschaftâ mitten in einer davon durchdrungenen Gesellschaft konkret vor-
zustellen ? Entscheidend dafĂŒr ist sicherlich der soziologische Grundsatz, dass
es sich hierbei nicht um ein âAuĂenâ oder âJenseitsâ des gesellschaftlichen KrĂ€f-
tespiels handelt, sondern um einen zwar seltenen, doch nicht unmöglichen
Effekt der âĂkonomie des symbolischen Tauschsâ bzw. um dessen idealtypische
AusprÀgung :
Seine vollkommenste Form ist das Hingeben seiner selbst und des eigenen Körpers,
dieses geheiligten, von der Warenzirkulation ausgenommenen Gegenstandes. Indem
er dauerhafte und nichtinstrumentelle Beziehungen voraussetzt und herstellt, steht
er [âŠ] in diametralem Gegensatz zu den Tauschbeziehungen des Arbeitsmarktes,
den temporÀren und strikt instrumentellen Transaktionen zwischen beliebigen, d. h.
gleichgĂŒltigen und austauschbaren Akteuren. Die kĂ€ufliche oder auf Gewinn be-
dachte Liebe, fĂŒrwahr ein Widerspruch in sich, stellt deren universell als Sakrileg
geltende Grenzform dar.324
Das Prinzip des âsymbolischen Tauschesâ bedeutet keineswegs eine komplette
Aufhebung des gesellschaftlichen KrÀftespiels, sondern beruht als dessen spe-
zifische Erscheinungsform auf ihm, indem es eine andere Ăkonomie in Kraft
setzt als jene in der modernen westlichen Welt hĂ€ufig fĂŒr absolut gehaltene
Ăkonomie der Warenzirkulation. So kann die scheinbar vormoderne Ăkono-
mie exzessiver Verausgabung, die der Amour fou zugrunde liegt, in der mo-
dernen Welt durchaus historisch lokalisiert werden :
Die âreine Liebeâ, dieses lâart pour lâart der Liebe, ist wie das lâart pour lâart selbst, die
reine Liebe zur Kunst, mit der sie geschichtlich und strukturell aufs engste zusam-
menhÀngt, eine historisch relativ junge Erfindung. In ihrer vollendetsten Gestalt ist
sie gewiĂ nur sehr selten anzutreffen. Immer und nicht nur an ihrem fast nie erreich-
ten Extrempunkt â wo man von âamour fouâ spricht â ist sie mit exzessiven AnsprĂŒ-
chen, mit âVerrĂŒcktheitenâ verbunden.325
323 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 188.
324 Ebd., S. 190.
325 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208