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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 895
Stelle der unmittelbaren Erinnerungen an Gesicht, Kleider, Bewegungen und Stimme
dieser Frau ein. Ihre Welt war ihm inzwischen so fremd geworden, daĂ ihn die Aussage,
sie sei die Frau eines Majors gewesen, ergötzlich unglaubhaft anmutete. (MoE 123)
Die konkrete IndividualitÀt der Àlteren Frau, die beim jungen Ulrich ganz un-
gewohnte GefĂŒhle ausgelöst hat, spielt in seiner Erinnerung eine untergeord-
nete Rolle gegenĂŒber dem Andenken an die Beschaffenheit dieser GefĂŒhle
selbst. Bereits seinerzeit waren es nicht eigentlich ihre inneren oder Ă€uĂeren
Eigenschaften gewesen, auf die sich seine Leidenschaft bezogen hatte :
Ulrich hatte sich von Beginn an weniger in die sinnliche Anwesenheit dieser Frau
verliebt als in ihren Begriff. Der Leutnant, der damals seinen Namen trug, war nicht
schĂŒchtern ; sein Blick hatte sich schon an kleinem Weibszeug geĂŒbt und sogar bei
mancher ehrbaren Frau den leicht ausgetretenen Diebspfad erspĂ€ht, der zu ihr fĂŒhrte.
Aber die âgroĂe Liebeâ, das war fĂŒr diese zwanzigjĂ€hrigen Offiziere, wenn sie ĂŒber-
haupt Verlangen danach hatten, etwas anderes, das war ein Begriff ; er lag auĂerhalb
der Reichweite ihrer Unternehmungen und war so arm an Erfahrungsinhalt und eben
darum auch so blendend leer, wie es nur ganz groĂe Begriffe sind. Und als Ulrich zum
erstenmal in seinem Leben die Möglichkeit in sich sah, diesen Begriff anzuwenden,
muĂte es darum auch geschehen ; der Frau Major fiel hiebei keine andere Rolle zu
wie die des letzten Anlasses, der einer Krankheit zum Ausbruch verhilft. (MoE 123)
Die Abstraktheit des vom jungen Ulrich gepflegten zeittypischen Ideals der
âgroĂen Liebeâ wird von Musil in seinem Essay Die Frau gestern und morgen
(1929) recht kritisch diagnostiziert : nĂ€mlich als Ausgeburt der âErwartung
junger MĂ€nner, die noch nicht Gelegenheit hatten, selbst einen Blick ins Le-
ben zu tunâ ; sie machten sich deshalb âgegen Ende der neunziger Jahre des
vorigen Jahrhundertsâ die in einer âalte[n] Novellenbibliothek, irgendein[em]
Novellenschatz oder -schatzkĂ€stlein der Weltliteraturâ vermittelten Vorstel-
lungen zu eigen (GW 8, 1194).335 Die erste âgroĂe Liebeâ Ulrichs fĂŒhrt auch
335 Zur Idee der âgroĂen Liebeâ und ihrer eminenten Zeitverhaftetheit fĂŒhrt der Essay Die Frau
gestern und morgen aus : âIn diesem Ideal wohnte zweifellos der Kern eines Wahnverhaltens,
und wer ein wenig in der Psychologie Bescheid weiĂ, wird sich vielleicht an das unersĂ€ttli-
che Sicherungsbestreben gemahnt fĂŒhlen, das nach der Schule Adlers eines der Merkmale
der Neurose ist. Aber Krankheit ist dieses menschliche Wahnverhalten kaum zu nennen, denn
in allem menschlichen Tun tritt, wenn es sich von seinem natĂŒrlichen Boden entfernt, wo es
neben einer Menge anders- und entgegengerichteter Interessen entstand, ein solches leeres
Wachstum auf, eine Entwicklung in der Richtung der Ăbersteigerung ohne FĂŒlle. [âŠ] Aus dem
Augenblick, wo der groteske Schatten dieses eindimensionalen Verhaltens auch auf die Liebe
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208