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„Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ 897
[A]uf einem Spazierritt überließ sie Ulrich, als sie neben ihren Pferden gingen, einen
Augenblick ihre Hand und bemerkte mit Schrecken, daß die Hand wie ohnmächtig
in der seinen liegen blieb. In der nächsten Sekunde flammte von ihren Handgelen-
ken bis zu den Knien ein Feuer, und ein Blitz fällte die beiden Menschen, so daß sie
fast auf den Wegrain gestürzt wären, in dessen Moos sie nun zu sitzen kamen, sich
leidenschaftlich küßten und schließlich verlegen wurden, weil die Liebe so groß und
ungewöhnlich war, daß ihnen zu ihrer Überraschung nichts anderes zu sprechen und
tun einfiel, als man bei solchen Umarmungen gewöhnt ist. Die Pferde, die ungeduldig
wurden, befreiten endlich die beiden Liebenden aus dieser Lage. (MoE 124)
Das plötzlich einsetzende, unermesslich wirkende Liebesgefühl erscheint den
beiden zwar im höchsten Grade ungewöhnlich, ihre auf der Grundlage dieses
Erlebnisses geäußerten Worte und getätigten Handlungen hingegen verharren
hilflos im Bereich des in solchen Augenblicken Üblichen. Die vollkommen
beliebig wirkende ‚Gewöhnlichkeit‘ der nur scheinbar einzigartigen und ‚un-
gewöhnlichen‘ Verliebtheit erweist sich in der Unfähigkeit beider, einander
jenseits bloß körperlicher Annäherung338 wirklich nahe zu kommen :
Die Liebe der Frau Major und des zu jungen Leutnants blieb auch in ihrem ganzen
Ablauf kurz und unwirklich. Sie staunten beide, sie preßten sich noch einigemal an-
einander, sie fühlten beide, daß etwas nicht in Ordnung sei und sie auch dann nicht
bei ihren Umarmungen Leib an Leib kommen lassen würde, wenn sie sich aller Hin-
dernisse der Kleidung und Sitte entledigten. Die Frau Major wollte sich einer Lei-
denschaft nicht verweigern, über die sie kein Urteil zu haben fühlte, aber heimlich
pochten Vorwürfe in ihr, wegen ihres Gatten und des Altersunterschieds, und als
338 Laut Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 271 f., ist es gerade die „Umarmung“, „durch die sie
von der Trivialität der Liebe eingeholt werden“. Hierin manifestiert sich sein rein semiotischer
Ansatz, der den Körper prinzipiell nur als störende Größe im Reich der ‚reinen‘ Zeichen auf-
zufassen imstande ist : „Durch den körperlichen Liebesakt kehrt die gewöhnliche Sprache der
Liebe zurück und ernüchtert die Gesteigertheit. Ulrich bleibt, um diesen Umarmungen zu ent-
gehen und um so die Gesteigertheit zu retten, nicht anderes übrig, als sich von der Geliebten
zu trennen und wegzureisen. Die erfolgte Umarmung ist der wesentliche Unterschied dieser
Liebe zu der von Ulrich und Agathe.“ Die überaus leibliche Grundlage der ‚unkörperlichen
Gestimmtheit‘ geht in solcher Perspektive verloren ; sie ist aber gerade für Musils auch nietz-
scheanische Konzeption des ‚anderen Zustands‘ entscheidend, wie etwa Ulrichs Rat an Hans
Sepp bezeugt : „Ich würde Gerda in die Arme schließen“ etc. (MoE 562 ; vgl. auch MoE 573 u.
817). In diesem Zusammenhang postuliert Pekar dann überraschend eine „Sprache der Liebe“,
„die es vermag[,] auch das Nicht-Sprachliche (den Körper und seine Begehrensansprüche) ein-
zuschließen.“ (S. 243) Wie man sich das im sprachlichen Medium konkret vorzustellen hätte,
bleibt allerdings unerfindlich.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208