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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 899
ein solches â in der Liebesliteratur topisches â Ansinnen wird tatsĂ€chlich kei-
nerlei erzĂ€hlerischer Aufwand betrieben. Von herausragender Bedeutung fĂŒr
den gesamten Romantext ist der Aufenthalt des liebeskranken Ulrich an der
dalmatischen KĂŒste auch nicht wegen seines anekdotischen Reizes, sondern
wegen der dabei gemachten âneomystischenâ Erfahrungen343, die auf die zent-
rale Thematik des Zweiten Romanteils vorausdeuten. Sie werden daher (zum
MissvergnĂŒgen mancher psychoanalytischen Interpreten344) entschieden ein-
lÀsslicher und eindringlicher geschildert als das eigentliche Liebesabenteuer
â weshalb sie ausfĂŒhrlich zitiert seien :
Er [âŠ] stieg auf einen der Steinriegel oder er legte sich am Inselrand zwischen die
Gesellschaft von Meer, Fels und Himmel. Das ist nicht anmaĂend gesagt, denn der
GröĂenunterschied verlor sich, so wie sich ĂŒbrigens auch der Unterschied zwischen
Geist, tierischer und toter Natur in solchem Beisammensein verlor und jede Art Un-
terschied zwischen den Dingen geringer wurde. Um das ganz nĂŒchtern auszudrĂŒk-
ken, diese Unterschiede werden sich wohl weder verloren noch verringert haben,
aber die Bedeutung fiel von ihnen ab, man war âkeinen Scheidungen des Menschen-
tums mehr untertanâ, genau so wie es die von der Mystik der Liebe ergriffenen Gott-
glÀubigen beschrieben haben, von denen der junge Reiterleutnant damals nicht das
geringste wuĂte. Er dachte auch nicht ĂŒber diese Erscheinungen nach â wie man
sonst, einem JĂ€ger auf der Wildspur gleich, einer Beobachtung nachspĂŒrt und hinter
ihr dreindenkt â, ja er nahm sie wohl nicht einmal wahr, sondern er nahm sie in sich.
Er versank in der Landschaft, obgleich das ebensogut ein unaussprechliches Getra-
genwerden war, und wenn die Welt seine Augen ĂŒberschritt, so schlug ihr Sinn von
innen an ihn in lautlosen Wellen. Er war ins Herz der Welt geraten ; von ihm zu der
weit entfernten Geliebten war es ebenso weit wie zum nĂ€chsten Baum ; IngefĂŒhl [!]
verband die Wesen ohne Raum, Àhnlich wie im Traum zwei Wesen einander durch-
schreiten können, ohne sich zu vermischen, und Ànderte alle ihre Beziehungen. Der
Zustand hatte aber sonst nichts mit Traum gemeinsam. Er war klar und ĂŒbervoll von
klaren Gedanken ; bloà bewegte sich nichts in ihm nach Ursache, Zweck und kör-
343 Zu den konstitutiven Kennzeichen âneomystischerâ Erfahrungen vgl. Spörl : Gottlose Mystik,
S. 26 : âDie strukturelle IdentitĂ€t mit der mystischen unio betrifft dabei insbesondere den un-
bezweifelbaren Wahrheits- und Erkenntnischarakter, die grenzenlose Einheit oder unmittelbare NĂ€he
stiftende Funktion, die Opposition zur rationalen und empirischen Erkenntnis und zur Alltags- oder
Wissenschaftssprache, die transitorische Augenblickshaftigkeit, die (psychische wie physische)
AffektivitĂ€t und Eindringlichkeit sowie die Problematik eines adĂ€quaten kĂŒnstlerischen Ausdrucks
von mystischer unio-Erfahrung und neomystischem Erlebnis.â
344 So beschwört Dettmering : Die DoppelgĂ€nger-Phantasie, S. 454, die âGefĂ€hrlichkeitâ des âim
ozeanischen Erleben enthaltenen regressiven Potential[s]â.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208