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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 905
hÀtte sich diesen Eingriff ihrer Eltern nicht gefallen lassen, wÀre sie nicht selbst
unsicher gewesen ; aber umso bitterer empfand sie ihn.â (MoE 312) Das junge
Paar entscheidet sich in âprĂ€stabilierter Harmonieâ mit diesem elterlichen Zwang
bewusst zur Keuschheit, was Hans gegenĂŒber Gerdas Eltern mit einem deut-
schen âEhrenwortâ bekrĂ€ftigt (MoE 312), hinter dem er â zumindest in sexueller
Hinsicht â auch mit ganzer Ăberzeugung steht. Er legt dadurch zwar wiederum
das Ethos des âabsteigenden KleinbĂŒrgertumsâ an den Tag354, weist aber zugleich
proleptisch auf die im kanonischen Romantext selbst auferlegte körperliche Ent-
haltsamkeit der liebenden Geschwister Ulrich und Agathe voraus. Ganz anders
wirkt die intrikate Konstellation auf Gerda, die im Kreis der jungen âChristger-
manenâ bei aller tiefsitzenden, weil habituellen Skepsis doch einen authentisch
wirkenden Gegenentwurf zu jener problematischen Wirklichkeit sieht, mit der
sie tagtĂ€glich im Elternhaus konfrontiert ist. Dies fĂŒhrt zu immer neuen Doub-
lebind-Situationen : âDie elterlichen Versuche, ihre Beziehung zu Hans Sepp zu
reglementieren, treiben Gerda nur noch tiefer in sie hinein, werden doch da-
durch seine Ideologeme von âElternmacht und -anmaĂungâ bestĂ€tigt.â355 Insofern
muss die Strategie der untereinander uneinigen Eltern als vollkommen verfehlt
bezeichnet werden, denn sie befördert gerade das Gegenteil ihres intentiona-
len Zieles : â[D]ie beiden jungen Leute litten natĂŒrlich unter diesem Zwang, der
ihnen von auĂen eine Grenze setzte, ehe sie noch die innere, eigene gefunden
hatten.â (MoE 312) Die âinnere Grenzeâ im Sinne des Erkennens eigener Be-
dĂŒrfnisse und WĂŒnsche kann unter diesen UmstĂ€nden ĂŒberhaupt nicht eruiert
werden, was die von Beginn an unsichere Tochter immer schwankender erschei-
nen lÀsst (vgl. MoE 492 f.) und ihrem Hauslehrer in die Arme treibt. Wie Pekar
treffend diagnostiziert hat, krankt sie als junge Frau, der in der traditionellen pa-
triarchalischen Gesellschaft Kakaniens keine Halbwelterlebnisse offenstehen, an
der steten UnterdrĂŒckung ihrer sexuellen BedĂŒrfnisse :
Die angestrebte Liebesgemeinschaft soll âĂŒbersinnlichâ sein ; doch wenn ihr Eros auch
seine Heimstatt im Ăbersinnlichen haben soll, so bleibt er doch Eros â ein steter
Reiz : Die Rede von âĂbersinnlichkeit und Inbrunstâ erzeugt bei Gerda erst âein zartes
Gedenken an Sinnlichkeit und Brunstâ (vgl. MoE 480). Es ist dasselbe wie mit den
KĂŒssen Hans Sepps (KĂŒsse werden als eine Art GrenzzĂ€rtlichkeit zwischen Sinn-
lichem und Ăbersinnlichem toleriert), die erst das âVerlangen nach vollendeter Umar-
mungâ (MoE 561) hervorrufen.356
354 Vgl. Bourdieu : Die feinen Unterschiede, S. 549.
355 Pekar : Die Sprache der Liebe, S. 234.
356 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208